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Ihr Wochenende mit der Mitteldeutschen Zeitung Wie die Jahrestage in Halle sich verändert haben

07.11.2025, 08:29
Frank Klemmer ist Themenmanager und leitet die Lokalredaktion der MZ in Halle.
Frank Klemmer ist Themenmanager und leitet die Lokalredaktion der MZ in Halle. (Grafik: Tobias Büttner/Foto: Andreas Stedtler)

ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber bei mir hat sich etwas verändert. Vor allem jetzt im Herbst. Vor allem dann, wenn die ganzen Jahrestage anstehen. So wie am Sonntag der Jahrestag der Jahrestage in der deutschen Geschichte: 107 Jahre nach der Ausrufung der ersten deutschen Republik, 87 Jahre nach der Reichspogromnacht, 36 Jahre nach der Öffnung der Grenzen zwischen DDR und BRD und dem folgenden Fall der Berliner Mauer.

Ein Schicksalstag, sagen viele. Zeit sich zu erinnern, meinen immer noch mehr. Doch längst nicht mehr der einzige Jahrestag, den wir im Herbst haben. Da gibt es inzwischen noch andere, bei denen die Erinnerung noch etwas frischer ist. Und – weil es sich oft genug um puren Terror handelt – nur noch traurig, ohne den kleinsten Anteil von Freude.

Die neuen traurigen Jahrestage im Oktober

Und eben heute auch irgendwie anders: greifbarer, nicht mehr so weit weg. Ja, manchmal sogar verdammt nah am aktuellen Geschehen. Und dennoch irgendwie furchtbar ambivalent. Zwei dieser Jahrestage haben wir hier in Halle gerade erst im Oktober erlebt – und das innerhalb von einer Woche.

Gedenken in Halle: Auf dem Markt wurde am 9. Oktober an den sechsten Jahrestag des Anschlags in der Stadt erinnert.
Gedenken in Halle: Auf dem Markt wurde am 9. Oktober an den sechsten Jahrestag des Anschlags in der Stadt erinnert.
(Foto: Steffen Schellhorn)

Erst war da der 7. Oktober, der zweite Jahrestag des Überfalls der Hamas auf Israel. Dann, zwei Tage später am 9. Oktober, der sechste Jahrestag der Tat des Rechtsextremisten Stephan B., der am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur erst versucht hatte, schwer bewaffnet in eine Synagoge einzudringen und dann, nachdem er an der Tür gescheitert war, zwei Menschen tötete und bei seiner Flucht zwei weitere verletzte.

Wie nah das Gedenken, das mein Kollege Denny Kleindienst an diesem Tag 2025 von früh bis spät begleitet hat, an der Wirklichkeit ist, hatte sich nur einige Tage vorher in Manchester gezeigt: wieder an Jom Kippur, wieder mit einem Anschlag auf eine Jüdische Gemeinde.

Bereits am Mittag hatte das Gedenken an der Synagoge begonnen.
Bereits am Mittag hatte das Gedenken an der Synagoge begonnen.
(Foto: Steffen Schellhorn)

Und auch am Tag selbst, als Kollege Kleindienst abends bei einer Podiumsdiskussion im Stadthaus zu hören bekam, wie Juden heute in Halle in Angst leben – und warum die Gemeinde Briefe ohne Absender verschickt.

So greifbar ist der Konflikt in der Stadt

Greifbar ist gerade dieser Konflikt besonders in diesem Jahr hier in Halle aber nicht nur an Jahrestagen. Wie lokal, nicht nur international das Thema ist, da hilft ein Blick auf die Schlagzeilen der vergangenen Wochen und Monate: Da gerät das Kino Zazie ins Visier pro-israelischer Gruppen, weil es den Film „From Ground Zero“ zeigt.

Polizeischutz benötigte das Kino Zazie, weil der Film „From Ground Zero“ gezeigt wurde.
Polizeischutz benötigte das Kino Zazie, weil der Film „From Ground Zero“ gezeigt wurde.
(Foto: Marvin Matzulla)

Da erlebt die Uni zum zweiten Mal eine Debatte über die Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten und ihr Buch „Völkermord in Gaza“, weil Baumgarten anders als im Mai dieses Mal wirklich, wenn auch nur per Video zugeschaltet in einer Veranstaltung im Audimax zu Wort kommt.

Das Audimax an der Martin-Luther-Universität in Halle war Schauplatz der umstrittenen Veranstaltung.
Das Audimax an der Martin-Luther-Universität in Halle war Schauplatz der umstrittenen Veranstaltung.
(Foto: Matthias Müller)

Und dann schwebt über allem gerade in dieser Woche die Debatte rund um die rechte Buchmesse „Seitenwechsel“, die – ausgerechnet, wie die Kritiker und Organisatoren des „WIR“-Festivals sagen – an diesem „Jahrestag“-Wochenende um den 9. November in Halle stattfindet. Mein Kollege Christian Eger hat dazu vorab ein sehr interessantes Interview mit Deniz Yücel, dem Sprecher des PEN Berlin, geführt.

Ein weiteres Attentat, das Spuren hinterlassen hat

Die Debatten sind greifbar, die Jahrestage auch. Und manchmal kommt auch noch einer dazu, an den man gar nicht mehr gedacht hatte. So ging es mir am Dienstag: Da jährte sich das Attentat auf den israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin zum 30. Mal. Mit Rabin starb letztlich auch der Friedensprozess von Oslo. Nie mehr in den folgenden Jahrzehnten bis – vielleicht – jetzt schien Frieden in der Region überhaupt nah.

Jitzhak Rabin starb am 4. November 1995 nach einem Attentat.
Jitzhak Rabin starb am 4. November 1995 nach einem Attentat.
(Archivfoto: dpa)

30 Jahre sind eine lange Zeit. Ich habe versucht mich zu erinnern, wie das damals war. Unschuldiger, um nicht zu sagen naiv, würde ich aus heutiger Sicht sagen. Viele der „Terrortage“, an die wir uns heute über das Jahr hinweg erinnern, hatten ja auch noch gar nicht stattgefunden – nicht einmal der 11. September 2001.

Gedenken ist kein Wunschkonzert

Ich zum Beispiel habe meines Wissens an jenem 4. November 1995 zum ersten Mal gehört, dass es so etwas wie einen „rechtsextremistischen Israeli“ gibt, denn der hatte die Tat begangen. Ich erinnere mich, dass mich immer Rabins Lebensweg beeindruckt hat: als Kämpfer für die Gründung des Staates Israel, später als Generalstabschef in den Kriegen gegen seine Feinde, die den Staat in seiner Existenz infragestellten. Und schließlich dann trotzdem als Ministerpräsident, der den Frieden schließt.

Ein Happy End, so wie man es sich wünschen würde. Nicht nur an Jahrestagen. Leider ist Gedenken kein Wunschkonzert – und nicht erst seit 30 Jahren. So naiv bin auch ich nicht mehr. Und nicht jeder Ruf nach Frieden hilft auch wirklich gegen den Krieg. Aber warum sich nicht trotzdem einfach mal etwas wünschen?

Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen

Ihr Frank Klemmer