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Alt wie ein Baum? Nicht alle!

Von harald boltze 28.02.2012, 10:23

naumburg. - In der Theorie erschließt sich mir das kaum. Jedes Wochenende singen in den Stadien der Fußball-Bundesliga Tausende junge Fans 90 Minuten und länger. Und bei "Deutschland sucht den Superstar" stehen auch die männlichen Kandidaten Schlange. Am Singen selbst kann es also nicht liegen. In der Praxis, befürchte ich, wird es damit zu tun haben, dass die Chöre überaltert sind, und der gemeine 25-Jährige einfach zu wenig Lust hat, seinen ganzen Abend mit Rentnern zu verbringen.

Der Chorleiter hat Musical-Auftritt

Mit den Grochlitzern hatte ich mir jedoch eine "junge Ausnahme" gesucht. Sieben der etwa 30 aktiven Sänger sind unter 30 Jahre alt. Das ist weit und breit einmalig. Die meisten Chöre schreiben in der Statistik-Spalte bei "unter 30" eine fette Null. Die Grochlitzer werden aber nicht nur für ihre jungen Sänger, sondern auch für ihren jungen Chorleiter beneidet. Michael Beck heißt er. Doch als ich Freitagabend in Altgrochlitz ankomme, höre ich: Der Michael ist heute leider nicht da. Als Musicaldarsteller hat er einen Auftritt in der "West Side Story". Was es alles gibt.

Sein Stellvertreter heißt Ralf Lill. Oder besser: Ralf. "Denn hier im Chor duzt man sich", wie mir Chorleiter Frank Hoffmann klarmacht. Gesungen wird im Vereinszimmer im Haus Altgrochlitz 22. Zuvor waren die Sänger von Kneipe zu Kneipe getingelt, überall schlossen die Lokalitäten, ehe sie 2008 das Haus von Chorbruder Frank Geiling ausbauen durften und mit eigener Hände Arbeit binnen weniger Monate ein schönes Vereinsheim schufen. Bis zu 30 Sänger kommen regelmäßig. Jeder hat seinen persönlichen Bierdeckel auf dem Platz. Es gibt Fassbier.

Ich frage mich aber: Wo soll ich sitzen? "Singst du eher hoch oder tief?", fragt mich Ralf. Und als er merkt, dass ich das selbst nicht so genau weiß, zeigt er mir den Platz neben Waldefried. Ich setze mich und bemerke das Grinsen der anderen Sänger. Seit über 40 Jahren ist Waldefried im Chor, der etwa zur Hälfte aus Grochlitzern und zur Hälfte aus Männern "von jenseits der Bahnschranken" besteht. Mein Sitznachbar begrüßt mich herzlich "bei uns im 1. Tenor", und ich verstehe erst Minuten später, warum alle gejohlt haben. Für Waldefrieds Tenorstimme hätte ich zwei Hosennummern enger anziehen müssen. So hoch kam ich nicht mal vor dem Stimmbruch.

Der Nachwuchs ist hausgemacht

Die "Unter-30-Fraktion" des Chores ist heute spärlich besetzt. Neben mir sind es noch Felix sowie zwei Vertreter der Hoffmann-Sippe. Ich merke: Der üppige Nachwuchs ist hausgemacht. Oldie Hans Hoffmann singt nicht nur Seit an Seit mit seinen Söhnen, sondern auch mit drei Enkeln.

Die Singestunde beginnt, und nach kurzen Aufwärmübungen darf sich jede Stimme Lieder wünschen. Die ersten beiden sind mir unbekannt. Ich versuche trotzdem mein Bestes, obwohl es schwierig ist, Noten, Text und Dirigenten gleichzeitig im Auge zu haben.

Danach wird es einfacher. "By The Rivers of Babylon" auf Deutsch, dann ein Trinklied sowie "An der Saale hellem Strande" bekomme ich gut hin. Chorleiter Ralf ist mit der allgemeinen Leistung jedoch unzufrieden. Wir sollen die Anfangsbuchstaben korrekt betonen, "auch wenn ihr als Naumburger in den Geller geht, um Gohlen zu holen". Das Singen macht Spaß, der Abend ist schön. Zwischendrin wird gescherzt, Alt-Herren-Witze machen die Runde. Und nach "Wochenend' und Sonnenschein" verrät mir Waldefried, dass ich eigentlich ein 1. Bass bin. Na, super.

Dann ist die Singestunde beendet. Ich erfahre noch viel über die stolze Geschichte des Chores, spendiere zum Dank eine Runde Schnaps und komme noch mal aufs Thema "Jugend und Chorgesang" zurück. "Warum singt ihr keine aktuelleren Lieder", frage ich und höre, dass man gerade "Alt wie ein Baum" von den Puhdys ins Repertoire aufgenommen hat. Ich traue mich zu erwähnen, dass der Song älter ist als ich (Wikipedia sagt: von 1976) und bekomme erklärt, dass fast alle aktuellen Hits einstimmig sind. Der Chorgesang besteche jedoch durch seine Vielstimmigkeit. Zudem wollen nicht alle Routiniers in die moderne Musik vorstoßen. Mir jedenfalls hat's Spaß gemacht. Ich würde wiederkommen. Dann aber bitte in einer Stimmlage, die zu mir "basst".