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MZ-Serie „Lebenswege“ Wie eine Ärztin aus Halle mit 19 D-Mark den Neuanfang im Westen wagte

Kieferorthopädin Annemarie Stolze kämpfte in der DDR für ihre berufliche Zukunft. Als die Mauer fiel, wurde der Weg in die Selbstständigkeit zum Abenteuer.

Von Dirk Skrzypczak Aktualisiert: 19.10.2022, 17:57
Ein Leben mit Biss: Annemarie Stolze hat für ihre Ziele gekämpft und sich auch nicht vom Mauerfall davon abbringen lassen.
Ein Leben mit Biss: Annemarie Stolze hat für ihre Ziele gekämpft und sich auch nicht vom Mauerfall davon abbringen lassen. (Foto: Steffen Schellhorn)

Halle (Saale)/MZ - Annemarie Stolze kommt immer wieder gern in die Praxis im Mühlweg, die sie zusammen mit Heiko Goldbecher Mitte der 2000er Jahre aufgebaut hat. „Ich habe meinen Beruf geliebt. Er war mein Leben“, sagt die promovierte Kieferorthopädin. Die wachen Augen der heute 82-Jährigen blitzen, das Lächeln und der zufriedene Gesichtsausdruck erzählen von einem so bewegten wie erfüllten Leben. Die über die Stadtgrenzen Halles hinaus angesehene Medizinerin hat vor und nach dem Mauerfall der Kieferorthopädie ihren Stempel aufgedrückt. Die politische Wende freilich gönnt ihr keine Verschnaufpause, fordert Mut und verrückte Entscheidungen. „Es war eine abenteuerliche Zeit“, sagt sie.

Nachkriegsjahre in Wettin

Annemarie Stolze ist ein Kind vom Lande. Die Familie wohnt in Wettin. Ihren Vater, der in dritter Generation eine Sattlerdynastie weiterführt, lernt sie erst 1946 kennen. Er kämpfte im Krieg, geriet in Gefangenschaft. Die Eltern haben einen großen Garten und bewirtschaften zudem ein Stück Acker. Es ist für das Mädchen keine leichte Zeit. Sie liebt die Schule, „der Herd war nicht so mein Ding“. Dennoch hilft sie zu Hause aus: im Garten, im Betrieb des Vaters. Er hat den Traum, dass seine Tochter einen jungen Mann kennenlernt und mit ihm die Familientradition fortsetzt. Doch das Leben schreibt für die resolute und zielstrebige junge Frau eine andere Geschichte.

„Ich hatte mich an der Hochschule für Architektur in Weimar beworben. Doch ohne eine Lehre in einem Bauberuf wollte man mich dort nicht nehmen.“ Einen Zweitwunsch hatte sie nicht, also versuchte es die Wettinerin auf Anraten ihrer Lehrerin bei der Hochschule für Binnenhandel in Leipzig. Dort attestierte man ihr, dass „meine psychologische Einstellung nicht reichte, um an einer sozialistischen Hochschule studieren zu können“. Abhilfe soll ein Arbeitsjahr in einem Betrieb schaffen. Annemarie Stolze geht für einen Stundenlohn von 85 Pfennig zum VEG Tierzucht nach Wettin. Und dort hat sie einen Geistesblitz, als sie auf dem Feld arbeitet.

Klassenfahrt als Wendepunkt

Sie erinnert sich an ein Zeltlager nach dem Abi an der Ostsee. Der Mann ihrer Lehrerin, ein Zahnarzt, sah in der jungen Frau mehr als eine Verkäuferin oder Büroangestellte. Sie solle Zahnärztin werden, rät er ihr. Annemarie Stolze telefoniert Universitäten ab. Halle sagt zu.

Schnell wird klar, dass die Studentin ins Schwarze trifft. Die handwerklichen Fähigkeiten des Vaters hat sie in den Genen. „Als Kieferorthopädin braucht man eine gute Augen-Hand-Koordination. Was ich sehe, muss ich sofort umsetzen können.“ Sie hinterlässt Eindruck, bleibt an der Universität, investiert weitere vier Jahre für die Spezialisierung zur Kieferorthopädin.

Annemarie Stolze Anfang der 1970er Jahre bei der Behandlung eines Kindes. Der individuelle Kontakt zu Patienten ist ihr immer wichtig gewesen.
Annemarie Stolze Anfang der 1970er Jahre bei der Behandlung eines Kindes. Der individuelle Kontakt zu Patienten ist ihr immer wichtig gewesen.
Repro Steffen Schellhorn

„Die medizinische Ausbildung in allen Fachbereichen war in der DDR gut. Aber der Staat bevorzugte Arbeiter“, erzählt sie. Halle umgarnt die Chemiker, baut für sie mit Halle-Neustadt eine Großstadt. Für die Ärztin, mit einem Urologen verheiratet, wird die Wohnungssuche hingegen zur Odyssee. Fast acht Jahre müssen sich die Stolzes eine Wohnung mit einem anderen Ehepaar, das getrennt lebt und neue Partner hat, sowie dessen Kindern teilen. Eine unerträgliche Situation. Teilweise drängeln sich morgens neun Leute um die einzige Toilette. „Und so bin ich öfter aus der Richard-Wagner-Straße in die Zahnklinik in der Großen Steinstraße gerannt, um aufs Klo zu gehen.“ Als ihr die Stelle als Oberärztin in der Fachpoliklinik für Stomatologie angeboten wird, sagt sie nur unter der Bedingung zu, dass ihre Familie, zu der auch ein Sohn gehört, eine eigene Wohnung erhält.

Dass es anders geht, weiß sie von ihrer Verwandtschaft aus dem Westen. Der Vater hatte zwölf Geschwister. Die Familien leben kreuz und quer in der BRD verteilt, eine Tante wohnt in der Schweiz. „Für uns war es eine Tatsache, dass wir durch eine Grenze geteilt sind. Und ich hatte nie gedacht, dass sich daran etwas ändert.“ Doch der Eiserne Vorhang fällt. In einer atemlosen Hatz wird Geschichte geschrieben. Im Dezember 1990 ist für die Medizinerin in der Poliklinik mit einem Schlag Schluss. „Dann mache ich eben alleine weiter, habe ich mir gesagt. Wie ich das hinbekommen soll, wusste ich nicht.“

Abenteuer mit nichts in der Tasche

Es ist eine Zäsur. Mit 19 D-Mark und 88 Pfennig auf dem Konto geht sie zur Sparkasse. Doch einen Kredit gewährt man der mittlerweile 50-Jährigen nicht. Von der Deutschen Bank erhält sie schließlich 300.000 Mark, wagt ohne Mietvertrag in den Räumen der Poliklinik den Neustart. „Von Betriebswirtschaft hatte keiner von uns Ahnung. Die spielte in der DDR keine Rolle.“ Was eine Prothese kostet, wie die Arbeitsleistung abgerechnet werden muss: Darum mussten sich Ärzte im sozialistischen Gesundheitssystem nicht kümmern. Doch das Experiment glückt. Aus sechs Mitarbeitern werden zehn, in Dr. Heiko Goldbecher findet sie einen Geschäftspartner.

Bis zum 70. Lebensjahr hat Annemarie Stolze gearbeitet. Ihr Fachwissen ist auch international gefragt. Sie wird in den Bundesvorstand der Deutschen Kieferorthopäden gewählt, ist von 2003 bis 2007 zudem Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie. Sie hält Vorträge in München und Ulm, reist zu Kongressen nach Paris und in die USA. „Ich bin seit jeher ein disziplinierter Mensch gewesen. Das hat mir geholfen“, sagt sie. Und zwar vor und nach der Wende.