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MZ-Serie „Lebenswege“ Wie eine junge Frau in den 1980er Jahren mit der Kamera gegen Abrissbagger in Halles Altstadt antrat

Ines Zimmermann hat ihre Kindheit in den 80er-Jahren verbracht – und den Wettlauf gegen die Abrissbagger in Halles Altstadt angetreten.

Von Katja Pausch Aktualisiert: 21.11.2022, 14:50
Ihre erste Kamera, eine „Beirette“, besitzt Ines Zimmermann  nicht mehr. Mit dieser und später einer „Practica“ hat die Hallenserin in den 80er-Jahren in Halles Altstadt den Abriss ganzer Häuserzeilen dokumentiert.
Ihre erste Kamera, eine „Beirette“, besitzt Ines Zimmermann nicht mehr. Mit dieser und später einer „Practica“ hat die Hallenserin in den 80er-Jahren in Halles Altstadt den Abriss ganzer Häuserzeilen dokumentiert. (Foto: Steffen Schellhorn)

Halle/MZ - Die 80er-Jahre sind für Ines Zimmermann die Jahre ihrer Jugend. 1972 geboren, wächst die Hallenserin gemeinsam mit ihrem Bruder in Halle-Neustadt auf. Vier Personen in einer Drei-Raum-Wohnung; das Mädchen teilt sich das schmale Kinderzimmer mit dem Bruder. „Mein Vater hat unsere Wohnung spaßeshalber gerne mal Axt-Wohnung genannt“, erinnert sich die heute 50-Jährige, die damals nicht wusste, was er meinte: Dass eine Wohnung, zumal eine viel zu kleine wie ihre, Menschen auch erschlagen könne. „Das habe ich viel später erst verstanden.“

Die „Betonwüste“, wie Ines Zimmermann Neustadt – damals noch eigenständige Stadt neben Halle – heute noch nennt, habe in ihr aufgrund der gleichförmigen, eintönigen Bauweise aber auch die Liebe zur Altstadt Halles, zu den alten Häusern entfacht. „Wir waren öfter zu Ausflügen, wie wir als Kinder die Fahrten von Neustadt nach Halle immer genannt haben, unterwegs in Richtung hallesche Altstadt, später zog ich alleine oder mit meinem Cousin los“, erinnert sich die freischaffende Künstlerin, die 1989 ein Bauingenieurstudium beginnt und später ein Zusatzstudium der Denkmalpflege absolviert.

Zum elften Geburtstag bekommt Ines Zimmermann eine Kamera geschenkt

Schon als Kind malt und zeichnet Ines Zimmermann gern – am liebsten „ihre“ Häuser, die sie auf ihren Streifzügen durch Halles Straßenzüge entdeckt und liebgewinnt. „Ich hatte jede Menge Lieblingshäuser“, sagt sie. „Alle hatten für mich ein Gesicht, etwas Einzigartiges, das es in meinen Augen zu bewahren galt.“ So hält sie diese Häuser – im Graseweg, in der Geiststraße, im Neumarktviertel – zunächst mit Zeichenstift und Pinsel fest, richtet sich mit einer Schulfreundin später sogar ein eigenes kleines Atelier in einem Abrisshaus ein, erst an der Spitze, später im baufälligen Keller des inzwischen längst sanierten Ackerbürgerhofs.

Zum elften Geburtstag bekommt Ines Zimmermann eine Kamera geschenkt, eine „Beirette“. Als dann ein Jahr später, 1984, die Abrisse in Halles Altstadt beginnen, kommt die Zwölfjährige nicht mehr hinterher mit dem Porträtieren ihrer Häuser. „Ich konnte einfach nicht so schnell zeichnen, wie der Abriss vonstattenging.“ Also habe sie die „Beirette“ geschnappt und ihre Lieblingshäuser fotografiert – immer im Wettlauf mit dem Abrissbagger. „Ich wollte schneller sein als der Bagger, wollte diese Häuser, die dem Untergang geweiht waren, in ihrem Charme und ihrer Würde bewahren“, so Ines Zimmermann, für die das kindheitsbestimmende Thema der alten Häuser zu einem großen Lebensthema werden sollte.

Ines Zimmermann hat schon als Kind gern gemalt.
Ines Zimmermann hat schon als Kind gern gemalt.
(Foto: Marianne Zimmermann)

Besuch aus dem Westen wird 1987 zur Blamage für Ines Zimmermann

In einem Tagebucheintrag hält Ines Zimmermann einen denkwürdigen „Westbesuch“ fest, an den sich die Hallenserin auch heute noch lebhaft erinnert. Am 17. Mai 1987, einem Sonntag, sei ein Freund der Familie aus Nürnberg zu einem runden Geburtstag in der Familie nach Halle gereist. „Ich erhielt damals den Auftrag, mit Ulrich, unserem Besuch, eine Führung durch Halle zu unternehmen“, so Ines Zimmermann. Mit der Straßenbahn geht es also für die 15-Jährige gemeinsam mit Ulrich von Neustadt in Richtung Innenstadt.

Schon in der Mansfelder Straße habe der Gast aussteigen wollen, „und da begann auch schon die Blamage, denn die ganze Straße war voller Ruinen“. Auch an der Spitze habe es nicht besser ausgesehen, so dass sie auf einen rettenden Einfall gehofft habe, um dem Besucher aus dem Westen doch noch ein ansehnliches Bau-Ensemble präsentieren zu können: „Na klar, das Glaucha-Viertel!“, so die Blitz-Idee. Schließlich sei es damals als Vorzeige-Projekt in puncto DDR-Sanierung oft in der Zeitung erwähnt worden.

Ines Zimmermann erfüllt sich nach der Wende einen Jugendtraum

Doch beim Anblick der baufälligen Georgenkirche, an der man unweigerlich vorbei muss, dann der Schock! Welch geschundenes Gotteshaus habe sie dem Gast, ein strenggläubiger Christ, da vorgeführt. Und auch die versprochenen restaurierten Häuser im Glaucha-Viertel gibt es, zum Entsetzen des jungen Mädchens, nicht.

Große Ideale, Häuser zu retten, treiben Ines Zimmermann an. Sie arbeitet als Bauingenieurin, doch kommt ihr angesichts erlebter Billigsanierungen und auch weiteren Abrisses die Erkenntnis, dass „Rettung so nicht möglich“ ist. So erfüllt sich Ines Zimmermann nach der Wende einen Jugendtraum und studiert ab 2000 Malerei und Grafik an der halleschen Kunsthochschule Burg Giebichenstein. Fotos, sagt sie, mache sie heute kaum noch. Zeichnen und Malen seien inzwischen spannender, böten mehr Möglichkeiten, einem Haus die Würde wiederzugeben. Und das, so die Künstlerin, sei immer noch ihr wichtigstes Anliegen.