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Christian Lehnert Christian Lehnert: «Nach Osten: Sieh nur, dieses Schauen!»

Von Christian Eger 25.10.2011, 17:47

Wittenberg/MZ. -

Buchstäbliche Fußnoten zum Gedicht, die den Standort des Autors kenntlich machen. Eine nützliche Beigabe. Denn Lehnert bietet, wenn er über Land zieht, keine Postkartenpoesie. Das heißt: Er malt nicht wie ein Naturdichter alter Schule die Mitwelt in Worten ab. Setzt keinen Baum oder Berg noch einmal in Szene, viel mehr achtet er auf die flüchtigen Medien: das Licht, den Wind, den Ton, der eine Landschaft durchzieht. Oder das, was über diese hinwegfliegt: Amsel, Schwan oder Fledermaus. Weniger ein Beschreibungs- als ein Wahrnehmungsdichter ist der protestantische Theologe vom Jahrgang 1969, der seit 2008 als Studienleiter für Theologie und Kultur an der Evangelischen Akademie Wittenberg tätig ist. Ein Dichter, bei dem äußeres an inneres, immer reflektiertes Erleben gebunden ist.

"Du sprichst noch, Wasser, sprichst noch immer weiter": So hebt das dritte Gedicht des titelgebenden Zyklus an, notiert am 27. Dezember 2008. Das fährt fort: "...und mit dem Strom lauschst du ins Weite, sprichst / mit dem Geräusch, und immer noch verzweigter, / an langen Deichen, die du sickernd brichst / / wie Schweigen, Häuserreihen." Zeilen, die in topografischer Hinsicht ortlos sind. Und das, ohne dass diesen Versen etwas von ihrer Eindrücklichkeit verloren geht. Aber der dann doch gelieferte Zusatz "Elbe bei Wittenberg" zieht einen schlanken Rahmen um das Geschehen. Betont die Zeitgenossenschaft, die der Dichter mit seinen Lesern teilt.

Besser: die Jahreszeitengenossenschaft. Denn Lehnert bietet mit seinem nunmehr fünften Gedichtband einen Gang durch die Zeit: "Jahrein" heißt die erste Abteilung, "Aufkommender Atem" die zweite, "Trost (Moments musicaux)" die dritte. Alles, was hier geschieht, ist unmittelbar lebenswirklich oder mittelbar religiös zu begreifen, so wie bei Lehnerts neuen Gedichten das Weltliche immer - unaufdringlich! - neben dem Geistlichen liegt.

"Aufkommender Atem": Das wäre denn auch so elementar biologisch wie theologisch zu lesen - der Schöpferatem, der belebt und beseelt. Das meint mehr und anderes als nur: aufkommender Wind. Aber man muss es nicht theologisch lesen. Was Lehnert zeigt, sind Zeiten des Erwachens. Was ihn interessiert: Wie kommt ein Ich auf die Welt, wo findet es Halt? In der Herkunft, dem Naturerleben, der Kunst, im - abwesenden - Gott?

"Vorfrühling" heißt das Auftaktgedicht: "Die Amsel zögert noch in einer Welt, / die innen stumm ist, außen kaum zu fühlen, / im Schnee. Als hätte sie sich vorgestellt, / zum Fliegen sei ein Ton herabzukühlen, / der Wind sei ein bestimmtes Intervall, / so klar wie Eis. Im Schwarm allein, das eine / gefiederte Erwachen..." Und dann eine Zeile wie: "Noch scheint die Sonne aus der Luft gegriffen". Mit meisterhaft wenigen Strichen ist das da: Scheinwärme und Scheinfrühling, der ein Nochwinter ist.

Alles erstaunt an diesen Gedichten: Deren programmatische Kühnheit, deren sprachliche Könnerschaft. Kein Pointen-Effekt, kein Slang. Sprache, um nicht Benanntes zu fassen. "...nach Osten: Sieh nur, dieses Schauen!" endet ein Gedicht. In der Tat: Wann hat man solche Naturlyrik zuletzt gelesen? Ein wie selten gelungenes Buch.