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Russland Russland: Sehnsucht nach dem «faulen Zahn des Militarismus»

Von Thoralf Plath 19.05.2006, 11:18
Blick auf das Schloss im früheren Königsberg. (Foto: dpa)
Blick auf das Schloss im früheren Königsberg. (Foto: dpa) dpa

Kaliningrad/dpa. - Seit ein Bauboom über die russische Stadthereinbrach. Jetzt soll mitten im ausgelöschten historischen Zentrum,zwischen betongrauen Wohnblocks und den glänzenden Glasfassadenrapide wachsender Geschäftshäuser, das Wahrzeichen der altenOstpreußen-Metropole auferstehen - das Königsberger Schloss.

Kaum etwas war in Kaliningrad bislang schwerer vorstellbar. Nichtein Stein blieb erhalten von dem mächtigen, in Jahrhundertengewachsenen Ordensbau, der wie ein Wächter auf dem südlichen Hochuferdes Pregelstroms thronte. Das Schloss verschwand spurlos, samt derkompletten Topographie seiner umliegenden Straßen und Gassen. Heutebeherrscht eine kahle Fläche das Bild, so groß wie zehnFußballfelder, nur mühsam verziert von Betonpflastern, verrottetenSpringbrunnen und struppigen Blumenrabatten, umstanden von einemGebirge sowjetischer Plattenbauten.

Ein staubiger Ort. Es gibt nicht viele Plätze in Kaliningrad, dieungemütlicher wirken. Wo einst der Ostflügel des Schlosses an denMünzplatz grenzte, ragt das «Dom Sowjetow» auf, das «Haus der Räte».Der 16-stöckige Koloss aus der Ära des früheren sowjetischenStaatschefs Leonid Breschnew sollte die Dominanz der 1969 gesprengtenSchlossruine ersetzen, doch bezogen wurde der Betonklotz nie.Königsbergs einplanierte Geschichte zitiert nur noch ein in denfrühen 90er Jahren aus Container-Shops zusammenschraubtes kleinesEinkaufszentrum am Rand des Platzes. «Staraja Baschnja» heißt es,«Alter Turm».

Nebenan kann man im Café «Am Schloss» unter alten Schwarz-Weiß-Fotos der versunkenen Königsberger Altstadt Cappuccino unditalienisches Eis genießen. Das winzige Lokal ist beliebt, die Plätzesind fast immer besetzt. Das Schloss und seine Renaissance sind hiertrotzdem kein besonderes Thema. Zu weit weg vom Alltag zwischenWohnungsnot und steigenden Preisen. Die meisten Kaliningrader habenandere Sorgen.

Als Vision ist der Wiederaufbau des 1969 gesprengten Schlossesschon einige Jahre Thema in Kaliningrader Zukunftsdebatten. Bislangwaren das eher fixe Ideen, geäußert von Leuten wie dem schillerndenGroßunternehmer Wladimir Scherbakow, der gern mal mit skurrilenPlänen von sich reden macht. Doch nachdem sich Anfang Mai nun dereinflussreiche Kaliningrader «Kulturrat» für die Wiederaufbaupläneausgesprochen hat, ist das Projekt in eine andere Liga aufgestiegen.Das neue Schloss gilt quasi als beschlossen. Dem Kulturrat gehörenMuseumsdirektoren, Wissenschaftler und einflussreicheRegionalpolitiker bis hoch zu Gouverneur Georgi Boos an.

Als Modell durfte der Kulturrat das «alte neue» Königsberg-Wahrzeichen bereits begutachten. Es zeigt, hundertfach verkleinert,ein schmuckes weißes Miniaturschloss neben dem radikal modernisierten«Haus der Räte», flankiert von pompösen Wolkenkratzern neurussischerSpielart, wie sie derzeit in den Moskauer Himmel wachsen. DerKaliningrader Chefarchitekt Alexander Baschin präsentiert mit seinemEntwurf noch zwei weitere Szenarien für den neuen Schlossplatz: eine«nostalgisch-historische» Variante, die sich eng an die Bebauung imKönigsberg des Jahres 1939 anlehnt, sowie ein futuristisch-modernesKonzept aus Glas, Beton und Stahl.

Woher das Geld für das Schloss kommen soll, steht freilich noch inden Sternen. Auf 100 Millionen Euro beziffert Baschin die Kosten desWiederaufbaus. Ein Projekt, wie Gouverneur Boos umgehend klarstellenließ, für das staatliche Mittel nicht bereit stehen werden. «Man wirdSponsoren finden müssen», betonte Boos. Erste KaliningraderUnternehmen haben ihre Hilfe schon zugesagt. Die Awtotor AG, bekanntdurch die Montage von BMW-Limousinen für den russischen Markt, willsich an der Finanzierung beteiligen, auch aus der örtlichen Filialedes Ölkonzerns Lukoil ist Ähnliches zu vernehmen.

In Kaliningrad scheiden sich am Wiederaufbau des Schlosses dieGeister. Die gigantische Summe und die Aussicht auf Luxuswohnungenund Nobelhotels machen das Thema nicht populärer. «Wer braucht diesesSchloss? Wem nützt es? Auf Schritt und Tritt stößt man in unsererStadt auf gewaltige Probleme, die gelöst werden müssen, darum sollendie Beamten sich kümmern», schimpft ein Leser in einer Umfrage derZeitung «Kaliningradskaja Prawda».

Das schwerste Geschütz fahren die Kommunisten und Kriegsveteranengegen die Schlosspläne auf. Nicht nur, weil sie auf dem Schlossplatzihr seit einem Jahr obdachloses Lenin-Denkmal aufstellen wollen. Fürsie ist das Schloss Symbol alter und neuer Feinde. In Wirklichkeit,so behauptet Wladimir Nikitin, Duma-Abgeordneter derradikalpatriotischen Fraktion «Rodina» (Heimat), gehe es nämlich umeinen schleichenden Loslösungsprozess von Russland. «Für bestimmteKreise in Kaliningrad ist das ein sehnlicher Wunsch. Diese Bandebraucht den Wiederaufbau des Schlosses als Symbol für dienichtrussische Bestimmung des Gebietes.»

Doch auch aus der Pro-Königsberg-Fraktion kommen skeptischeStimmen. «Das wird kein Schloss, sondern eine Fassade ohne Seele. DieLeute, die das geplant haben, verstehen nichts vom Geist dieserStadt», sagt Boris Abramow, Vorsitzender des Clubs der Heimatfreundeund alles andere als verdächtig, gegen den Erhalt deutscher Kultur zusein. Abramow hält den Wiederaufbau schlichtweg für Unsinn: «Was sollso ein Disneyland? Man sollte so viel Geld besser nutzen, um nochvorhandene Königsberger Baudenkmäler zu retten, ehe die auch nochuntergehen, weil sich niemand darum kümmert.»

Mit dem Schloss bekomme die Stadt ihr Herz zurück, meint hingegenProfessor Wladimir Kulakow, Ostpreußen-Spezialist der russischenArchäologie. Er erinnert an große Wiederaufbau-Beispiele wie Danzig,Warschau und Dresdens Frauenkirche. Kulakow will damit auch inKaliningrad beginnen: «Hier wurde nach dem Krieg ein ganzesStadtzentrum böswillig einplaniert, das man hätte erhalten können.Nun, die Zeiten waren so. Aber jetzt haben wir mit dem Wiederaufbaudes Schlosses endlich die Möglichkeit, an die Geschichte anzuknüpfenund architektonische Wunden zu heilen.»

Das Schloss symbolisiert wie kein anderer Ort die Geschichte undihre Brüche in der einstigen Hauptstadt Ostpreußens. Gegründet 1255von den Mönchsrittern des Deutschen Ordens und zu Ehren ihresHeerführers Ottokar II. von Böhmen Königsberg genannt, prägte derburgartige Bau mit seinem 82 Meter hohen Turm über siebenJahrhunderte das Bild der Ostseestadt. Am 18. Januar 1701 krönte sichFriedrich I. im Schloss zum ersten preußischen König. Als dieAltstadt im August 1944 durch britische Bomben in Schutt und Aschesank, wurde auch das Schloss schwer getroffen. Nach der Erstürmungder Stadt durch die Rote Armee war nur noch eine zerschossene Ruineübrig. Man hätte sie restaurieren können. Doch das war undenkbar:Königsberg hieß fortan Kaliningrad, das Thema Ostpreußen war tabu.

Im Jahr 1969 sprengten Pioniere der Sowjetarmee die Schlossruine,angeblich auf direkten Befehl von Parteichef Breschnew, der «denfaulen Zahn des preußischen Militarismus» endlich aus dem Stadtbildgetilgt sehen wollte. Die Soldaten brauchten Wochen, um die mächtigenMauern in die Luft zu jagen. Noch während sie die Trümmer einebneten,begann man einen Steinwurf entfernt das neue Symbol des sowjetischenKaliningrad hochzuziehen, den Rätepalast. Der Betonkoloss wurde niefertig. In der Perestrojka-Zeit ging den Bauherren das Geld aus,heute ragt der Klotz als Kaliningrads berühmteste Ruine über dieStadt. Zur 750-Jahr-Feier Kaliningrads strich man die Ruine imVorjahr blaugrau an, setzte neue Fenster ein, doch leer steht dasRätehaus immer noch. Chefarchitekt Baschin will im Zuge derSchlossplatz-Renaissance ein Dienstleistungszentrum daraus machen.

Das Schloss, legendenumrankter Mythos, seit seine Ruine von derBildfläche verschwand, taucht unterdessen bereits wieder auf. EinBauzaun markiert die Stelle, an der es einst stand, dahinter fälltder Blick in Kaliningrads geschichtsträchtigste Baugrube -mittelalterliche Backsteinmauern, Gewölbereste, tonnenschwereFindlinge. Russische Archäologen haben seit 2002 große Teile desWestflügels freigelegt. Ungerührt von den Debatten um denWiederaufbau graben sie weiter, finanziert vom HamburgerNachrichtenmagazin «Spiegel». Offiziell, um die Keimzelle Königsbergsfreizulegen und als Freilichtmuseum zu konservieren. Doch eigentlichgeht es um Spurensuche. Im Schlosskeller wurde 1945 ein legendärerKunstschatz zum letzten Mal gesehen - das Bernsteinzimmer.