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"Sie leben immer in Angst" "Sie leben immer in Angst": Neue Initiative soll Analphabeten helfen

19.08.2018, 19:11
Die Alphabetisierung in Sachsen-Anhalt soll vorangetrieben werden.
Die Alphabetisierung in Sachsen-Anhalt soll vorangetrieben werden. dpa

Magdeburg - Tausende Menschen in Sachsen-Anhalt können nicht richtig lesen und schreiben. „Das Tabu muss gebrochen werden“, sagte Reinhild Hugenroth. Die Bildungssoziologin leitet seit anderthalb Jahren das Landesnetzwerk Alphabetisierung und Grundbildung Sachsen-Anhalt in Magdeburg. Nach Schätzungen leben rund 200.000 funktionale Analphabeten in dem Bundesland.

Die Menschen scheiterten beim Lesen und Schreiben kleinster zusammenhängender Texte, erklärte Hugenroth. Damit könnten sie den gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werden. „Das zieht vor allem ein demokratisches Problem nach sich.“

So schwer hat es ein Analphabet im Alltag

Denn Analphabeten sind damit immer auf die Hilfe anderer angewiesen. Bei Ämtergängen würden sie ihre Partner mitnehmen, die ihnen die Formulare vorlesen müssten. In der Apotheke würden sie Mitarbeiter bitten, die Beipackzettel zu erklären. „Und sie leben immer in Angst“, betonte Hugenroth.

Knapp 60 Prozent der Betroffenen hätten eine Arbeit, so die Netzwerkleiterin. Die Angst, dass ihre Schwäche dort auffalle, treibe einige sogar dazu, freiwillig zu kündigen. „Die Digitalisierung verschärft das Problem“, sagte Hugenroth.

Ein Gabelstaplerfahrer, der jahrzehntelang seinen Job unbemerkt mit Leseschwäche ausüben konnte, bange nun, dass sein Fahrzeug mit Bildschirmen aufgerüstet werde und er damit arbeiten müsse. Bevor er sich der Scham stelle, zur Schwäche zu stehen, kündige er lieber und rutsche in die Arbeitslosigkeit. Das sei ein enormes Problem.

Die Netzwerkarbeit knüpft dort an und bringt mit Partnern aus dem gesamten Land Alphabetisierungsinitiativen auf den Weg. Derzeit gebe es rund 20 Projekte in Sachsen-Anhalt, erklärte Hugenroth. Diese reichten vom Alfa-Telefon, bei dem sich Betroffene anonym beraten lassen könnten, über Aktionen in Bibliotheken bis hin zu Lernwerkstätten wie etwa dem Lesecafé in Magdeburg.

Alphabetisierungskurse sollen aus Zwangslage befreien

Einen wichtigen Anteil haben auch die Alphabetisierungskurse. 2017 gab es den Angaben zufolge an 13 von 15 Volkshochschulen im Land 200 Kurse, in denen knapp 2.000 Männer und Frauen lesen und schreiben lernten.

Spezielle Angebote etwa für Pflegekräfte waren besonders beliebt. „Aufgrund des Fachkräftemangels gibt es einen hohen Bedarf an Personal“, sagte Hugenroth. Doch viele Menschen könnten den Anforderungen, etwa wenn es um die Dokumentation von Pflegeverläufen gehe, nicht gerecht werden. Der Kurs hilft diesen Menschen.

„Lesen lernt sich besser im Kontext“, sagte die Netzwerkleiterin weiter. Etwa wenn der Opa den Wunsch habe, seinem Enkel eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, könne er nach Jahrzehnten endlich die nötige Motivation aufbringen, um das Abenteuer Lesen einzugehen.

Landesinitiative für Alphabetisierung soll gegründet werden

Im Herbst will das Landesnetzwerk einen wichtigen Meilenstein setzen, um die Alphabetisierung im Land weiter voranzutreiben. Auf einem Treffen mit mehr als ein Dutzend Verbänden und Organisationen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft soll eine Landesinitiative für Alphabetisierung und Grundbildung gegründet werden, wie Hugenroth sagte.

Die Beteiligten - vom Landessportbund über den Museumsverband bis zum Landesapothekerverband - sollen das Thema aus ihrer Sicht besprechen und sich gemeinsam für die Alphabetisierung einsetzen.

Verschiedene Projekte sollen vernetzt werden

Die Museen könnten etwa Audioguides aufgerüstet werden, damit auch Analphabeten Zugang zu den Angeboten hätten, so Hugenroth. In Sportvereinen könnten Plakate aufgehängt werden. „Jeder ist Experte für seinen Bereich und weiß, wie er dort helfen kann.“

Das Landesnetzwerk Alphabetisierung und Grundbildung Sachsen-Anhalt ist ein Projekt von drei Trägern der Erwachsenenbildung – der Ländlichen Erwachsenenbildung, der Katholischen Erwachsenenbildung sowie Arbeit und Leben.

Ziel ist, die verschiedenen Projekte zu vernetzen und bekannt zu machen, Unternehmen und Verbände zu informieren sowie Betroffenen Mut zu machen. Am Montag eröffnet das Netzwerk eine Landesausstellung mit acht Tafeln, die an öffentlichen Orten auf das Thema aufmerksam machen soll. (dpa)