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EHEC-Krise EHEC-Krise: O 104 im Wärmeschrank

Von 'VON KATRIN LÖWE 14.06.2011, 19:03

WERNIGERODE/MZ. - In die Labore geht es durch eine Sicherheitsschleuse nur per Codekarte, an der Glasscheibe steht "Vorsicht Biogefährdung". Wegekittel, Arbeitskittel, Desinfektionsmittel, all das gehört hier zum Alltag. Ebenso wie die Tatsache, dass sich Angelika Fruth instinktiv angewöhnt hat, Labortüren mit dem Ellenbogen zu öffnen statt jede Klinke anzufassen. Hier, in Wernigerode, ist die einzige Außenstelle des Robert-Koch-Instituts (RKI) außerhalb Berlins, zugleich nationales Referenzzentrum für Salmonellen und bakterielle Durchfallerreger. Hier arbeiten die Mitarbeiter mit Bakterien, die es in sich haben. Wie EHEC. Vom Sicherheitsstandard im Labor her steht der aggressive Darmkeim auf gleicher Stufe wie Typhus oder Choleraerreger, sagt Erhard Tietze, wie Fruth Wissenschaftler im Wernigeröder RKI.

Hinter den beiden Mikrobiologen und ihren Kollegen liegen anstrengende, vor ihnen aber nicht viel weniger arbeitsintensive Wochen. Zwei Drittel der bundesweiten Patientenproben von EHEC-Erkrankten und deren Umfeld sind hier seit dem 23. Mai untersucht worden. Normal, sagt Fruth, hat die Außenstelle im Jahr 8 000 bis 9 000 Proben auf dem Tisch, 800 bis 900 mit EHEC-Bakterien. Jetzt waren es in drei Wochen 3 000, es gab Notfallpläne, tägliche Videokonferenzen. Urlaub? Keine gute Idee. Wochenende? "Seit dem Ausbruch war der Samstag kein Samstag mehr, der Feiertag kein Feiertag", sagt Fruth. Neben dem Laborjob stand sie vor Unmengen Anfragen von Wissenschaftlern, Krankenhäusern. Nach Zwölf-Stunden-Schichten hat sie selbst nachts zu Hause noch Mails beantwortet.

Jetzt macht sich ein Stück Hoffnung breit, dass sich die Lage langsam normalisiert. Am Dienstag sind 60 Proben in Wernigerode angekommen, vergangenen Freitag waren es sage und schreibe 450. Normal, ohne Epidemie, wären 20. "Wir sind sehr glücklich, dass nicht auch noch ein sommertypischer Salmonellen-Ausbruch dazugekommen ist", sagt Tietze. Bei der Wärme war das gut möglich.

Mit einem Schnellverfahren hat das RKI die EHEC-Analyse von fünf auf zwei Tage reduziert. Bei der, erklären die Wissenschaftler, gehe es nicht um einen bloßen EHEC-Nachweis, der ist in der Regel schon in anderen Laboren passiert. Wichtig sei, den Erreger zu isolieren, um dessen Typ und Stamm feststellen zu können, Vergleiche zu ermöglichen. Dazu muss das auf Wattetupfern per Kurier aus Laboren bundesweit angelieferte Bakterium zunächst 14 bis 16 Stunden in einem Wärmeschrank bei 37 Grad vermehrt werden, ehe es mikrobiologisch untersucht wird. Drei Viertel der Proben im Übrigen erwiesen sich jetzt als der aggressive Erreger mit dem Kürzel O 104.

"Auch für uns ist das eine noch nie dagewesene Epidemie", resümiert Tietze. Natürlich gab es schon Ausbrüche. Mehr als 100 000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich an bakteriellen Durchfallerkrankungen, die Dunkelziffer ist mindestens zehnmal so hoch. Eine Salmonellen-Epidemie in einer Fuldaer Klinik hat das RKI 2007 über Wochen beschäftigt. Auch EHEC-Ausbrüche gibt es immer wieder mal, vor drei Jahren in Hamburg, 2010 bei einer Kindergruppe nach Ferien auf einem Bauernhof. Nur waren die nie so wie jetzt. Nicht bundesweit. Nicht so aggressiv. Und damals klassische Kinderkrankheit.

Mindestens noch in den kommenden zwei Wochen rechnen die Experten in Wernigerode mit einer stark erhöhten Zahl von Proben. Für die Recherche über Verbreitungswege und Verhalten des Bakteriums werden auch welche aus dem Umfeld der Erkrankten dabei sein. Und: Die Forschungen zu dem neuen Erreger haben gerade erst angefangen. So legen die Wernigeröder eine Sammlung von Beispielproben aus verschiedenen Regionen, von verschiedenen Altersgruppen, verschiedenen Krankheitsstadien und von Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsverläufen an, um den Geheimnissen des Bakteriums auf die Spur zu kommen. Sie wollen erfahren, ob und unter welchen Bedingungen es sich verändert hat. Von Wernigerode aus werden dafür auch Proben an Wissenschaftler in der ganzen Welt verschickt werden.

Das Institut in der Harzstadt hat eine lange Tradition. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es sanitärepidemiologische Station der Roten Armee, um Infektionen mit Fleckfieber, Typhus oder Ruhr unter Soldaten einzudämmen. Später entstand daraus das Institut für Experimentelle Epidemiologie der DDR, nach der Wende die RKI-Außenstelle. In der lagert heute eine einzigartige Sammlung von 20 000 Bakterienstämmen, Durchfallerregern der letzten zehn Jahre. In zwölf Riesen-Kühlschränken sind sie bei minus 80 Grad eingefroren. Weiterer Effekt von EHEC: O 104 hat dafür gesorgt, dass Lagerkapazitäten früher erweitert werden müssen als gedacht.