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MZ-Aktion "Gute Geister" MZ-Aktion "Gute Geister": Eine Küsterin hat viel zu tun

Von Jochen Miche 23.12.2001, 21:00

Hettstedt/MZ. - Ihr Blick ist überall, ihre Hände sind es auch: dort entsorgt Anita Kiesel einen Kaugummi, den ein Gymnasiast nach dem weihnachtlichen Programm seiner Schule in der Hettstedter Jakobikirche hinterlassen hat, da sucht sie die Kartons mit dem Baumschmuck hervor, denn sie will gleich nach der Frauenhilfe, die sie nachher hat, den Baum mit Kugeln behängen, und da rückt sie noch mal die Kerzen auf dem Altar zurecht - sie stehen nicht akkurat.

Frau Kiesel ist ehrenamtliche Küsterin. Als solche schließt sie nicht nur die Kirche bei Gottesdiensten auf und zu. "Ich sorge dafür, dass alles Sakrale ordentlich vorbereitet ist, zünde die Kerzen an. Naja, und ich reiche auch schon mal die Hostien oder den Wein beim Abendmal, damit der Pfarrer nicht immer hochspringen muss, wenn etwas leer ist." Das klingt so einfach, so bescheiden.

Am heutigen Heiligen Abend geht es wieder hoch her für die 72-Jährige. Da hatte sie schon vorher das Antependium, der Stoffschmuck an der Stirnseite des Altars, ausgetauscht; es muss ab heute weiß sein. Bis gestern hatte er wegen der Fastenzeit die Grundfarbe violett, in Trinitatis ist er grün und so weiter. Das muss die Küsterin wissen und rechtzeitig ändern. Anderes Beispiel: Sie stellt immer die Blumen in die Kirche. "Familie Hans Goldschmidt aus der Jakobistraße spendet das ganze Jahr über Blumen", sagt Frau Kiesel voller Hochachtung. Goldschmidt wickelt und schenkt zudem jedes Jahr zwei Adventskränze und spendete dieses Jahr den Baum in der Winterkirche. Auch Ingrid und Emil Ryll bringen gern Blumen aus ihrem Garten, betont die Küsterin, und ergänzt: "Meine Arbeit gelingt nur deshalb, weil viele Leute - auch die ABM-Kräfte - mithelfen."

Sie arbeitet aktiv in der Frauenhilfe mit und liest in Gottesdiensten die Epistel und das Evangelium. Ihre kräftige und wohlartikulierte Stimme ist sehr bekannt. Wo hat sie das gelernt? Sie sagt: "Ich komme aus Ostpreußen. Wir sprachen nur Deutsch, und mein Großvater achtete besonders auf deutliche Aussprache. Außerdem habe ich im Kirchenchor mitgesungen." 1945 floh die Familie nach Deutschland. "Unterwegs wäre mein Bruder fast wie das Jesuskind zur Welt gekommen: in einer Scheune, ohne Decke, ohne Wasser. Der Bauer hat uns nicht ins Haus gelassen. Wir haben viel gebetet. Und das Wunder kam: in Form eines russischen Offiziers. Er zwang den Bauern, uns in der oberen leerstehenden Etage seines Hauses aufzunehmen." Ihr Bruder Jürgen kam am 18. März 1945 gesund zur Welt. Er lernte später Schlosser und lebt heute in Westdeutschland. Frau Kiesel lernte Herrenschneiderin, arbeitete wie ihr Mann auf der Hettstedter Bleihütte. Sie hat einen Sohn, den sie gern in ihr Gebet mit einschließt. Denn er ist arbeitslos, und sie wünscht ihm einen Job. Sie glaubt an Gott, weil sie weiß, "dass er mir oft, wenn ich keinen Ausweg mehr wusste, geholfen hat". Aus diesem Glauben nimmt sie auch die Kraft für ihre Arbeit als Küsterin. Auch heute, wenn sie von Mittags bis gegen 18 Uhr in der Kirche Dinge erledigt, von denen kaum ein Besucher etwas bemerkt.