Nachbarn beklagen Behördenversagen Nachbarn beklagen Behördenversagen: Der grausame Tod eines Zweijährigen in Querfurt

Querfurt - Hier, in diesem Neubaublock, nahm das Unglück seinen Lauf. An der Eingangstür des Querfurter Wohnhauses stehen am Dienstag zwei Schuljungen, betrachten die Kerzen, Blumen, Plüschtiere. Eine ältere Dame kommt hinzu. „Wie kann man nur so etwas tun?“, fragt sie bestürzt. „Wie kann eine Mutter so etwas zulassen?“
Querfurt: Zweijähriger stirbt nach schwerer Misshandlung
Querfurt steht unter Schock, seit der Tod eines zweijährigen Kleinkindes in diesem Neubaublock bekannt wurde. Der Körper des Jungen wies schwere Verletzungen und Spuren sexuellen Missbrauchs auf.
Die Polizei ermittelt „auf Hochtouren“, wie Staatsanwalt Klaus Wiechmann am Dienstag versichert. In Untersuchungshaft sitzen die 36-jährige Mutter und ein 30-jähriger verdächtiger Mann.
Nachbarn beklagen Behördenversagen
Eine Frage, die Nachbarn in diesen Tagen quält: Haben Behörden womöglich nicht genau genug hingesehen? Obwohl Anwohner immer wieder Hinweise auf Probleme in der Familie gaben? Drogenkonsum, nachts lauter Streit - über all das sollen Polizei und Jugendamt über Jahre hinweg informiert worden sein.
Nach MZ-Informationen waren nicht nur Polizisten mehrfach vor Ort, auch das Jugendamt des Landkreises soll die Familie auf dem Schirm gehabt haben. Diese Behörde kann im Notfall eingreifen und Kinder in Obhut nehmen.
Kreis sieht kein Versäumnis
Dennoch kam es zum tragischen Tod des Jungen, der Leichnam wurde am Samstag gefunden. Das Polizeirevier und das Jugendamt schweigen vorerst zum Fall und früheren Kontakten zur Familie. Michael Hayn (CDU), Chef des Jugendhilfeausschusses im Saalekreis, sagt der MZ: Zunächst müsse das Jugendamt den Fall aufarbeiten. „Das macht das Kind aber auch nicht wieder lebendig.“
Der tragische Fall schlägt Wellen bis in die Landeshauptstadt. Das Sozialministerium in Magdeburg hat mittlerweile Auskunft vom Jugendamt angefordert. Dabei geht es auch um die Frage, ob es Behördenversäumnisse gab. In einer ersten Stellungnahme habe der Landkreis mitgeteilt, „dass Anhaltspunkte für Versäumnisse des Jugendamtes oder eine Vorhersehbarkeit der Ereignisse nicht gegeben seien“, teilte das Sozialministerium am Abend mit.
Warum Querfurt kein Einzelfall ist
Querfurt - tragisch, aber kein absoluter Einzelfall. Neue Zahlen aus Sachsen-Anhalt zeigen am Dienstag, dass Behörden immer häufiger dem Verdacht der Kindeswohlgefährdung nachgehen müssen. Knapp 3.600 Verdachtsfälle prüften Jugendämter allein im Jahr 2019. Es war der Höchststand seit die Statistik 2012 erstmals erfasst wurde - und im Gegensatz zum Vorjahr ein Anstieg um gut 300 Fälle.
Nicht jeder Verdacht bestätigte sich, in drei von vier Fällen lag letztlich keine Kindeswohlgefährdung vor. Dennoch reagierten die Behörden auf die Hinweise häufig mit Hilfs- und Unterstützungsangeboten für betroffene Eltern. „Jeder einzelne Fall ist ein Fall zu viel“, sagt Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD). „Der Schutz von Kindern und Jugendlichen bleibt als eine Aufgabe der Jugendhilfe von herausragender Bedeutung.“
Bis zu zehn Fälle von tödlicher Gewalt gegen Kinder pro Jahr
Auch extreme Missbrauchsfälle wie in Querfurt registrieren Behörden in Land häufiger, als öffentlich bekannt ist. „Es gibt jährlich ungefähr zehn Fälle dieser Dimension, in denen Kinder infolge von Misshandlung und Gewalt sterben“, sagt Andrea Wegner, Landesgeschäftsführerin des Kinderschutzbundes. „Das ist erschreckend und schwer verdaulich.“ Sie betont aber zugleich, in aller Regel arbeiteten die Jugendämter makellos. „Wir haben keine Vergleichszahlen dazu, wie es wäre, wenn die Behörden nicht so gute Arbeit leisten würden.“
Dass Behörden zunehmend Verdachtsfällen nachgehen, ist für den Kinderschutzbund ein gutes Zeichen. „Es gibt mehr Aufmerksamkeit für das Wohl der Kinder, deshalb gibt es mehr Hinweise an die Jugendämter“, so Wegner. „Das ist gut. Es geht ja nicht darum, den Eltern die Fähigkeiten zur Erziehung abzusprechen. Sondern darum, Eltern zu unterstützen, die das Beste für ihre Kinder wollen.“
Polizei befragt Nachbarn
Am häufigsten erhalten Sachsen-Anhalts Jugendämter ihre Warnhinweise auf mögliche Kindeswohlgefährdung anonym - jeder zehnte Hinweis kommt hingegen von Bekannten und Nachbarn. „Menschen haben in der Regel ein gutes Bauchgefühl dafür, ob es Kindern in ihren Familien nicht gut geht“, sagt Wegner.
Etwa dann, wenn sich ein Kind in kurzer Zeit spürbar verändere: Wenn es Verhaltensauffälligkeit entwickele, melancholisch werde oder sich häufig „unsichtbar“ mache. Im Zweifel sollte immer das Jugendamt informiert werden, betont Wegner - auch mehrfach. „Wenn sich scheinbar nichts ändert und die Symptome schlimmer werden, sollte man das Kind nicht im Stich lassen“, sagt sie.
Bald sind die Nachbarn im Querfurter Neubaublock gefragt. Die Polizei will sie als Zeugen im aktuellen Fall befragen. (mz)
