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Aussteiger Aussteiger: Der vergessene Waldmann

Von KATRIN LÖWE 10.06.2011, 10:17

FALKENSTEIN/MZ. - Müll, Hausrat, Kleidung, Konserven, Kisten. Dazwischen ein alter Grill, ein Fahrrad. "Da drin war einfach alles, was man sich vorstellen kann", sagt Hartmut Schörner. Eine voll gestopfte Hütte, beschreibt der Wehrleiter von Falkenstein / Vogtland, in der nur ein Hauch von Raumaufteilung zu erkennen gewesen sei: eine Stelle zum Umziehen, das Vorratslager. Und oben unter dem Spitzdach, durch eine kleine Luke per Leiter erreichbar, die Schlafstätte.

Hier, einen Kilometer vom Ort entfernt und 50 Meter abseits des nächsten Weges, hat im dichten sächsischen Wald ein Einsiedler gelebt. Bis zu seinem einsamen Tod, irgendwann, vermutlich vor fünf Jahren. Am Montag haben Schörner und seine Kameraden von der Feuerwehr über das Dach die teils mumifizierte und skelettierte Leiche des Aussteigers geborgen, die eher zufällig von einem Jagdpächter entdeckt worden war.



Doch wer ist der Mann, der dort im Wald so unbemerkt starb? Und warum, fragt sich Pfarrer Eckehard Graubner, "hat ihn niemand vermisst?" Graubner ist noch kein Jahr Pfarrer in Falkenstein. Das wenige, was über den mysteriösen Aussteiger bislang bekannt ist, hat auch er nur aus der Presse. Dennoch: Graubner will sich jetzt kümmern, um "eine ordentliche Bestattung". Eine Beisetzung in Würde für denjenigen, der im Ort oft der "Waldmann" genannt wurde.

Anwohner sagen, sie hätten ihn dort oben zwischen den Bäumen ab und an beobachtet, wie er Wäsche aufhängte. Zu einer nahen Quelle waren provisorisch Wasserrohre verlegt. Im Falkensteiner Ortsteil Oberlauterbach kann sich Ortsvorsteher Marco Siegemund an Erzählungen erinnern, die im Dorf kursierten, Gerüchte um den Einsiedler. "Aber niemand weiß, ob er selber ausgestiegen, verarmt oder mit der Wende nicht zurechtgekommen ist", sagt Siegemund. Aus dem Dorf habe ihn schon lange keiner mehr gesehen. Der Mann geriet in Vergessenheit.

Laut Forstrevierleiter Alexander Thomä war er früher "überall in der Gegend" aufgetaucht. Zum ersten Mal, glaubt Klaus Fickert aus einem anderen Falkensteiner Ortsteil, noch vor der Wende. "Der Mann war damals vielleicht Mitte 30", vermutet er. Und es habe Gemunkel gegeben, dass die Behörden ihn zurück in die Zivilisation holen wollten. Fickerts Erinnerung stimmt mit dem überein, was inzwischen zu dem Mann bekannt ist, dessen DDR-Personalausweis im Gerümpel gefunden wurde: Thomas S., 1957 in Quedlinburg (Harzkreis) geboren und nach einer Zwischenstation in Rodewisch Mitte der 80er Jahre seit 1988 in Falkenstein gemeldet. Irgendwann war seine Wohnung unbenutzt. Als die Stadt ihn 1993 als unbekannt verzogen abmeldete, endete offensichtlich seine behördlich dokumentierte Existenz.

Gelebt zu haben scheint S. von nun an unter anderem von Essensresten. Falkensteiner berichten Journalisten gegenüber, der verwahrlost wirkende Mann mit den langen blonden Haaren sei oft zu einem Einkaufsmarkt gegangen und habe Essen im Container gesucht. Irgendwie muss er auch an Medikamente gekommen sein: In der Hütte findet die Polizei unter anderem einen Schleimlöser für Atemwegserkrankungen. Das Mittel ist verschreibungspflichtig. Und datiert auf das Jahr 2003.

Wie das Leben des Mannes aussah, wird auch bei den Ermittlungen eine Rolle spielen, sagt Polizeisprecher Jan Meinel. Was ein Verwandter von Thomas S., der inzwischen in den alten Bundesländern gefunden wurde, dazu beitragen kann, lässt er offen. Noch ist S. nicht eindeutig identifiziert.

Das einst von Forstarbeitern als Schützhütte errichtete, offiziell aber seit mehr als zehn Jahren nicht mehr genutzte Waldhäuschen wurde unterdessen abgerissen. "Unglaublich, was alles in der Hütte lag", sagt Forstrevierleiter Thomä. Fünf Lkw-Ladungen seien abtransportiert worden. Erstaunlich große Überbleibsel eines Lebens auf gut 20 Quadratmetern - und eines Todes in Einsamkeit.