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Ein Scheitern setzt neue Kräfte frei

Von Christoph Karpe 27.05.2013, 20:02
Den Weitsprung in Götzis bestritt Rico Freimuth unter Schmerzen.
Den Weitsprung in Götzis bestritt Rico Freimuth unter Schmerzen. dpa Lizenz

Halle/Götzis/MZ - In dicke, regenfeste Sachen verpackt, schlenderte Rico Freimuth gestern über die Leichtathletik-Anlage in Götzis (Österreich). Dort quälten sich seine Zehnkampf-Kollegen durch das Sauwetter. Fast schon verzweifelt versuchten sie die letzten fünf Disziplinen bei diesem Traditions-Meeting zu meistern. Freimuth schlürfte derweil Kaffee, schaute zu. Seit Sonnabend-Nachmittag hatte er Freizeit. Unfreiwillig.

Nach dem 100-Meter-Lauf in glänzender Bestzeit von 10,54 Sekunden, einem passablen Weitsprung-Resultat von 7,15 Metern und 14,54 Metern mit der Kugel musste er den Wettkampf vor dem Hochsprung abbrechen - und war zunächst am Boden zerstört. „Eine Schande“, klagte er.

Gestern jedoch war der Hallenser wieder mit sich im Reinen und hatte auf Kampfmodus geschaltet. „Mir geht es mental besser als vor dem Wettkampf“, sagte er einen Satz, der reichlich paradox klang. Schließlich hatte ihn eine Rückenverletzung lahmgelegt. „Beim ersten Weitsprung zwickte es plötzlich im Rücken. Es wurde immer schlimmer. Ich musste mich mit höllischen Schmerzen durch das Kugelstoßen plagen. Und dann kam die Einsicht: Es geht nicht weiter“, erzählte er. Massagen, Spritzen - nichts hatte geholfen. „Ein Muskel war wie Stein, da ging nichts mehr“, so Freimuth. Jetzt hofft er, die Verletzung bis zum alles entscheidenden WM-Qualifikationswettkampf in Ratingen (15/16. Juni) auskurieren zu können. „Inzwischen geht es schon wieder“, meinte er in Bezug auf seinen Rücken.

Und seine Psyche verschob sich innerhalb weniger Stunden auf der Mental-Skala von depressiv in Richtung optimistisch. „Ich war extrem traurig. Aber zugleich weiß ich jetzt: Ich habe es drauf.“ Er meint die WM-Norm. „Meine Form stimmt doch, das hat mein Super-Sprint gezeigt. Ich muss in Ratingen nur durchkommen, dann mache ich die nötigen Punkte und bin vor den anderen. Denn die haben gerade mal nichts drauf“, sagte Freimuth rigoros mit Blick auf das allgemeine deutsche Götzis-Desaster: Erst gab Jan Felix Knobel wegen akuter Formschwäche auf, nach fünf Disziplinen warf Europameister Pascal Behrenbruch das Handtuch. Der junge Kai Kazmirek, der sich lange gut geschlagen hatte, scheiterte im Stabhochsprung an seiner Anfangshöhe von 4,56 Metern. So kam als einziger der Hallenser Norman Müller trotz eines Strauchlers im Hürdensprint durch und wurde Sechster. Aber mit seinen 7 960 Punkten verpasste er die WM-Norm deutlich.

8 200 Zähler fordert der Verband für einen Start in Moskau. 8 427 Punkte hat der Neu-Hallenser Michael Schrader gerade in Ulm geschafft - und darf sich als einziger Deutscher sicher sein, die Welttitelkämpfe zu erleben. Dahinter kommt es zum Showdown. Und Bundestrainer Mehrkampf Claus Marek stützt sogar die Freimuth-These, dass dessen Kontrahenten akut schwächeln: „Pascal Behrenbruch ist nicht so explosiv wie im letzten Jahr“, sagt er. Und in Richtung Knobel: „Bei ihm fehlt nicht nur der Feinschliff.“ Und gen Freimuth: „Rico hat gezeigt, dass er in Form ist.“

Das hat der Olympiasechste inzwischen verinnerlicht, daran baut er sich auf. Die Anspannung, die ihn vor Götzis fast zerfressen hätte, ist plötzlich wie weggeblasen. Und genau deshalb fühlt er sich gerade irgendwie blendend - trotz der Verletzung und des damit verbundenen Scheiterns am Wochenende.

Also kann Rico Freimuth inzwischen schon wieder Späße machen. Michael Schrader, sein dickster Kumpel, hatte ihm nach dem furiosen Sprint in Götzis per SMS mit „Lahm-Arsch“ geneckt. Schrader war in Ulm 10,52 Sekunden gerannt, also zwei Hundertstel schneller. „Das werten wir zu Hause aus. Diese Bemerkung ist doch eine Frechheit“, sagte Rico Freimuth und lachte herzhaft - um dann bestimmt zu sagen: „Ich bin mir sicher, dass ich mit Micha gemeinsam zu WM fahre.“ Ratingen wird darüber entscheiden.