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Vortrag zur Europawoche Vortrag zur Europawoche: Angewandte Chaos-Theorie versperrt Chancen

Von Irina Steinmann 07.05.2003, 16:00

Wittenberg/MZ. - Zwei Dutzend vorwiegend ältere Menschen sitzen an diesem Abend in der Wittenberger Malschule vor dem Historiker aus Potsdam und wollen von ihm wissen, was denn nun wird aus der russischen Exklave, wenn nächstes Jahr die Nachbarn Litauen und Polen der EU beitreten. Eingeladen haben die Deutsch-Russländische Gesellschaft und die Europa-Union.

"Die Antwort auf diese Frage weiß niemand", enttäuscht Henke gleich eingangs all jene, die es gern mit Gewissheiten zu tun haben. Als Haupt-Hemmschuh für eine Entwicklung des wirtschaftlich sogar hinter den russischen Durchschnitt zurückgefallenen Gebiets sieht der Experte, der selbst einige Jahre in Kaliningrad gelebt hat und dort Leiter des Kulturinstituts "Deutsches Haus" war, die Borniertheit einer früheren Großmacht. Die Haltung "Die anderen müssen sich bewegen" präge auch den Umgang Moskaus mit dem heißen Eisen Kaliningrad gegenüber der EU: Man gibt sich betonköpfig und rechnet gleichzeitig wie selbstverständlich mit finanzieller Unterstützung. "Wenn-ihr-uns-nicht-helft-versinkt-hier-alles-im-Chaos", umschreibt er diese sehr spezielle Ausprägung der "Chaos-Theorie" - ein probates Machtmittel.

Flankiert werde das Herumeiern Moskaus in Sachen West-Öffnung von einer wachsenden Entfremdung der Kaliningrader vom Mutterland. Mittlerweile sei ein Drittel auch in der Stadt geboren. Vor allem die Jungen kämen inzwischen häufiger nach Vilnius, Warschau oder Berlin als in die eigene Hauptstadt Moskau. "Die Kaliningrader", so Henke, "fühlen sich von ihrem Staat im Stich gelassen." Welche Verwerfungen mit dem EU-Beitritt der Nachbarn trotz Transit-Einigung ganz praktisch auf Kaliningrad zukommen, zeige schon der Umstand, dass bisher gut ein Drittel der Bewohner vom grenzüberschreitenden Handel lebt - der zumeist ein illegaler ist. Und dessen Produkte auch sonst eines nicht erfüllen: EU-Normen. "Dann gehen die Fischkonserven nicht mehr nach Polen, sondern bleiben in Kaliningrad." Moskau müsse dem Gebiet an der neuen EU-Außengrenze schleunigst einen Sonderstatus einräumen.

Doch für Russland scheint Kaliningrad weiter Kriegsbeute zu sein, nicht Tor nach Europa. Vor wenigen Tagen erreichte Sergej Henke eine Mail aus Kaliningrad. Die Initiatoren des 750-jährigen Stadtjubiläums hatten von der Zentralgewalt in Moskau wissen wollen, ob unter dem Doppelnamen Kaliningrad-Königsberg gefeiert werden dürfe. Die Antwort des Präsidialamtes ging noch einen Schritt weiter. Man sehe, so zitierte Henke aus dem Schreiben, überhaupt "keine geschichtlichen Anhaltspunkte" für ein derartiges Jubiläum. Wenn aber demnächst die 60-Jahr-Feier anstünde, sei man gerne bereit . . .