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Hoch beglückt mit Ringelnatz

Von Kerstin Beier 29.10.2006, 17:12

Aschersleben/MZ. - Würden Sie, verehrte Herren, Ihre Frau liebevoll "Muschelkalk" nennen? Wohl nicht. Joachim Ringelnatz tat es. Und noch manches andere, was uns heute schmunzeln lässt. So legte er die bürgerliche Identität des zügel- und erfolglosen Hans Bötticher von einem Tag auf den anderen einfach ab. Weil jener Bötticher erdrückt wurde von der Autorität und von der künstlerischen Aura seines spießbürgerlichen Erzeugers. Nach dem Tod des Vaters befreite er sich davon und wurde über Nacht zu Joachim Ringelnatz. 1919 war das. Vierzehn Jahre blieben ihm noch, der Nachwelt fast 2000 Gedichte, vier Romane, acht Theaterstücke, 20 Novellen und unzählige Zeichnungen zu hinterlassen. Ein Fundus, aus dem Hagen-Hubert Möckel mit offensichtlichem Vergnügen schöpfen konnte. Dieses Vergnügen an der Beschäftigung mit einem außergewöhnlichen Menschen übertrug sich am Sonnabend im Grauen Hof mühelos auf das zahlreich erschienene Publikum. Der unterhaltsame Abend geriet zu einem locker-spritzigen, doch sorgsam komponierten Cocktail aus literarischen Leckerbissen, biografischen Zutaten und erzählerischer Noblesse.

Steffen Wendel reicherte das anregende Gemisch noch zusätzlich an, indem er virtuos in die Saiten seiner Gitarre griff und neben von Ringelnatz besonders geliebten Tangostandards auch "La Paloma" interpretierte - eines der Lieblingslieder des Mannes, der sich in unterschiedlichen Berufen versuchte und eben auch zur See fuhr.

Um Detailtreue bemühte sich Hagen-Hubert Möckel in jeder Phase des Programms. Und so trat er auf mit Schiebermütze, saloppem Leinenanzug und mit Fliege. Bewegung kam ins Publikum, als er sich schließlich all dieser Dinge entledigte und sich den Zuhörern im "Body" präsentierte - passend zu den "Turngedichten", von denen er einige Kostproben gab - darunter den "Klimmzug" oder "Am Hängetau". Mit Körpereinsatz und Hingabe verstand es der Wahl-Hallenser, der dem Ascherslebener Kunst- und Kulturverein dennoch seit Jahren treu bleibt, die unterschiedliche Stimmung jedes einzelnen Werkes nachzuempfinden.

Mit "Kuddel Daddeldu" hatte Ringelnatz eine Kunstfigur erschaffen, mit der er sich auch über sich selbst und seine Schwächen lustig machen konnte. Auszüge gab es auch aus diesem, Ringelnatz' zweitem überaus erfolgreichen Gedichtband. Ringelnatz selbst bezeichnete sich als "rezitierenden Dichter", im Telefonbuch war er als "Artist" verzeichnet, und er trat deutschlandweit ausschließlich in Kabaretts auf. Ein Zeitgenosse - auch an dieser Beschreibung ließ Möckel das Publikum teilhaben - charakterisierte ihn als "kleinen Kerl, mit von Wind und Wetter gegerbtem Geyergesicht" und als "seltsame Vereinigung von Sachse und Seemann". Die "Reisebriefe eines Artisten", mal humorvoll, mal nachdenklich, berichten seiner Frau von den Erlebnissen an den verschiedenen Tourneeorten. In den Armen seiner Frau Leonarda verstarb er im Alter von 51 Jahren an einer Lungentuberkulose. Seine Frau hatte er "so lieb", er würde ihr "ohne Bedenken eine Kachel aus meinem Ofen schenken". Beglückt ging das Publikum nach Hause. Und viele nahmen einen der "Pflücktexte" mit, die zu Hunderten aufgehängt waren.