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Forschung im Minenfeld Forschung im Minenfeld: Auf dem Grund der Nordsee liegen 13 Millionen Tonnen Munition

Von Felicitas Boeselager 10.04.2019, 12:00
Altmunition, die zuvor auf der geplanten Kabeltrasse zum Windpark Riffgat vor Borkum gefunden wurde, wird auf einem Räumungsschiff abtransportiert.
Altmunition, die zuvor auf der geplanten Kabeltrasse zum Windpark Riffgat vor Borkum gefunden wurde, wird auf einem Räumungsschiff abtransportiert. dpa

Halle (Saale) - Frederic Theis und Philipp Grassel hieven einen Stapel alter Seekarten auf ein Pult im Archiv des Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven. „Wir haben hier unten eine Datumsanzeige und einen Hinweis auf den Urheber, das ist eine hydrographische Behörde der britischen Admiralität, und das Datum, das hier genannt wird, ist September 1945.“

Was sofort ins Auge fällt: Fast das ganze Gebiet vor der Küste des europäischen Festlands ist rot. Und das heißt, in diesen Gebieten werden nicht nur Wracks vermutet, sondern insbesondere auch Munitionsreste aus zwei Weltkriegen.

Auf der Karte ist die südliche Nordsee abgebildet, das heißt, die Küsten des europäischen Festlands, außerdem England und Irland. „Wir haben also rote Bereiche vor den Küsten, sehr großflächige, einmal komplett rote und einmal gestrichelte rote“, erklärt Grassel, der zum Team von North Sea Wrecks gehört, einem Forschungsprogramm, das Munition und Wracks am Grund der Nordsee katalogisieren will.

Minenfelder, Schrott, Wracks: Auf dem Grund der Nordsee liegt alles Mögliche

„Die komplett roten werden als gefährlich eingestuft, allerdings kann man immer noch durchfahren. Und die gestrichelten roten werden eingestuft als sehr tiefliegende Minenfelder, die dort vorhanden sind, aber offen für die Oberflächen-Navigation. Also wir haben hier schon mal einen Hinweis, wo sich laut Informationen von damals Minenfelder befunden haben“, erklärt Philipp Grassel die Situation.

Doch es geht um mehr. „Auf dem Grund der Nordsee liegt alles das, was versehentlich über Bord gegangen ist, was gezielt dorthin gebracht wurde, was vielleicht versenkt, oder auch vom Himmel geschossen wurde. Also sprich, wir müssen mit Flugzeugwracks rechnen, mit Schiffswracks, mit über Bord gegangenen Containern“, sagt Sunhild Kleingärtner, Direktorin des Deutschen Schifffahrtsmuseums Bremerhaven und Leiterin des Projektes North Sea Wrecks.

„Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg hat man auch geglaubt, an bestimmten Stellen in der Nordsee Munition verklappen zu können, um eine Lösung zu finden, wohin man mit Munitionsresten gehen kann.“

Schätzungen zufolge liegen auf dem Grund der Nordsee 1,3 Millionen Tonnen Munition. Und das zum Teil seit mehr als 100 Jahren. Relikte aus zwei Weltkriegen. Die Strömung, das Salzwasser und das Meer wirken dabei wie Schmirgelpapier auf die Munition, erklärt Kleingärtner. „Zunehmend sickern TNT und andere explosive Stoffe ins Meer in die Flora und Fauna ein, so dass das jetzt eigentlich eine tickende Zeitbombe auf dem Meeresgrund ist.“

Alles ab ins Meer: Keiner machte sich Gedanken über die Gefahren

Die genaue Dokumentation der verklappten Munition auf den Seekarten verdeutlicht, wie wenig Bewusstsein man nach den Kriegen für das Ökosystem Meer hatte. Man dachte: Aus den Augen, aus dem Sinn - Problem erledigt. Außer den Seekarten nutzen die Forscher Schriftstücke, oder Berichte alter Fischer, die erzählen, wo sie im Auftrag der Alliierten die Munition ins Meer gekippt haben.

„Das ist auch der Grund, warum dieses Projekt am Deutschen Schifffahrtsmuseum angesiedelt ist. Weil wir im Grunde die historischen Informationen aus unserem Archiv haben“, erklärt Direktorin Kleingärtner. „Das ist der Ausgangspunkt, an dem wir die historischen Informationen nutzen wollen, um daraus dann auch Schlüsse zu ziehen: Wo müssen wir ansetzen, um uns überhaupt einen Überblick über den Zustand unter Wasser zu verschaffen?“

Giftmüll ist eine gefährliche und oft auch heimtückische Hinterlassenschaft, die viele Menschen besorgt und die auch nach Jahrzehnten häufig noch für große Probleme sorgt. Das betrifft alte Kriegsmunition auf dem Meeresboden ebenso wie das Erbe der Chemieindustrie in Ost und West oder Geschäfte, die mit Müll immer wieder gemacht werden.

Die Mitteldeutsche Zeitung und der Deutschlandfunk präsentieren ab 8. April 2019 zu dem Thema unter dem Titel „Giftmüll auf der Spur“ eine Serie mit ausgewählten Beiträgen.

Weitere Folgen in Mitteldeutscher Zeitung und Deutschlandfunk

„Langfristig kann daraus mal eine große Datenbank werden, die dann wirklich auch für die Politik, für die Wirtschaft, für sämtliche Interessenten nutzbar sein soll“, sagt Jens Ruppenthal, ebenfalls vom Deutschen Schifffahrtsmuseum. „Das ist aber im Grunde bereits ein Fortsetzungsschritt. Dieses Projekt setzt tatsächlich ganz früh an und versucht zunächst mal, eine Informationssammlung zu erschaffen.“

Nach der Arbeit der Historiker und Archäologen sind die Naturwissenschaftler an der Reihe. Wie Matthias Brenner vom Alfred Wegener Institut in Bremerhaven. Er war schon an großen Forschungsprojekten in der Ostsee beteiligt und hofft nun, von diesen Erfahrungen profitieren zu können. Allerdings sei nicht alles übertragbar. Denn die Ostsee sei im Vergleich zur Nordsee eher ein See mit geringem Wasseraustausch. Was in sie hineinkäme, das verweile dort auch für eine lange Zeit.

„Während zum Beispiel in der Nordsee die Wasseraustauschraten wesentlich größer sind, zwei Mal am Tag kommen die Gezeiten rein, ein Wasserkörper ist komplett ausgetauscht gegen einen anderen“, erklärt Brenner. „Das heißt Substanzen, die aus einem Munitionskörper rauskommen, sind natürlich dann schnell großflächig verteilt. Das kann dann ganz andere Auswirkungen auf die Organismen haben.“ In jedem Fall stehen die Forscher bei der Nordsee noch ganz am Anfang.

Forschung zu Munition in der Nordsee steht noch ganz am Anfang

„In der Nordsee wurde noch nichts dergleichen untersucht. Es ist davon auszugehen, dass man es nicht wollte. Tatsache ist, dass 70 Jahre lang keine Forschung finanziert wurde, die sich im Detail damit beschäftigt, vor allem keine unabhängige Forschung.“

Anders ist die Lage an der Ostsee: Dort wird die Munition schon seit 2006 untersucht. „In der Ostsee sind die Anrainer vielfältig, und die Polen und beispielsweise die Litauer haben auch ein sehr starkes Interesse daran gehabt herauszufinden, was eigentlich dort liegt“, sagt Brenner. „Sie waren am Krieg unschuldig, die Verklappung wurde von den Russen organisiert, die Waffen stammen nicht von ihnen, und sie haben drängende Fragen gehabt.“

Eine weitere Herausforderung in der Nordsee sind die schlechten Sichtverhältnisse. Taucher können zum Teil nur 20 Zentimeter weit sehen, und manche Wracks sind ganz versteckt, erläutert Grassel. „Die Sedimentbewegung in der Nordsee ist halt größer, einfach weil man wesentlich mehr Strömung hat, allein schon durch den Gezeitenwechsel. Wir haben zum Beispiel ein Wrack, und drei Jahre später ist es weg, aber es ist nicht weg, sondern es ist einfach nur zugespült. Und dann zwei Jahre später ist es wieder da. Man hat also eine wesentlich größere Dynamik des Meeresbodens.“

Das Projekt North Sea Wrecks, das von der EU gefördert wird und an dem 30 Partner beteiligt sind, soll 2022 abgeschlossen sein. Doch die Uhr tickt und die Gefahr ist offensichtlich: Abgesehen davon, dass einige Geschosse heute schon offen liegen, zeigen jüngste Minenfunde in Niedersachsen, dass die Metallhülle in 15 Jahren ganz durchgerostet wäre. (mz)

Alle Beiträge können auch Sie nachhören und -lesen: www.deutschlandfunk.de/giftmuell