Stich ins Wespennest Stich ins Wespennest : So sorgte Martin Luther für eine gesellschaftliche Revolution

Wittenberg - Jede Bewegung braucht eine gute Anfangsgeschichte. Aber leider erzählt sich Geschichte meist besser im Rückblick - und die Bedeutung bestimmter historischer Ereignisse wird erst dann erkannt, wenn sich niemand mehr so recht erinnern kann, wie alles einmal angefangen hat.
Jede gute Anfangsgeschichte braucht ein Datum, einen Ort und eine Person. Am 31. Oktober 1517 hat der bis dahin völlig unbekannte Mönch und Professor Martin Luther seine 95 Thesen über den Ablass an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg angebracht - oder sie auf andere Weise in der Öffentlichkeit verbreitet.
Diese Thesen waren der Auslöser für die Reformation und für die Entstehung der evangelischen Kirche in Abgrenzung zur katholischen Kirche. Der 31. Oktober 1517 ist eher ein symbolisches Datum. Es hat aber einen konkreten geschichtlichen Hintergrund. Worum ging es in den 95 Thesen eigentlich? Und warum haben sie in Kirche und Staat vor 500 Jahren solche Erschütterungen ausgelöst?
Erlass von Sündenstrafen für den Besuch der Reliquiensammlung in Wittenberg
Martin Luther war seit 1508 Professor für Bibelauslegung an der von Kurfürst Friedrich dem Weisen neugegründeten Universität in Wittenberg. Er war aber gleichzeitig auch Beichtvater und Seelsorger der Wittenberger Christen. Seit dem Frühjahr 1517 erlebte er immer häufiger, dass die Gläubigen ihm im Beichtstuhl ein Papier, einen sogenannten „Ablassbrief“ vorzeigten.
Zu Martin Luthers Zeit war die Überzeugung, dass jeder Mensch von Gott für seine Sünden eine Strafe zu erwarten habe, fest in den Köpfen verankert. Dazu gehörte auch die Vorstellung von einem Fegefeuer, das sündige Menschen erleiden mussten, bevor sie in den Himmel kamen. Verkürzt, „abgelassen“ werden konnten diese „zeitlichen Sündenstrafen“ durch Bußübungen, wie etwa Gebete, gute Werke oder auch den Besuch besonderer geistlicher Orte.
Die Schlosskirche in Wittenberg beherbergte beispielsweise eine umfangreiche Sammlung von Reliquien (Überreste von Heiligen). Für den Besuch dieser Reliquiensammlung wurden den Gläubigen gut 39 Millionen Jahre an Sündenstrafen erlassen. Die Möglichkeit eines Ablasses wurde von Luther auch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Aber die Papiere, die ihm die Gläubigen neuerdings vorlegten, erregten seinen Zorn.
Geld für Petersdom in Rom: Ablasshandel war einträgliches Geschäft für Kirche
Diese Ablassbriefe wurden in der Gegend rund um Wittenberg vom Prediger Johann Tetzel verkauft. Er versprach den Gläubigen den Ablass ihrer Sündenstrafen gegen Bezahlung, ohne dass noch Beichte und Buße nötig seien. „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“ - auf diese in Luthers Augen völlig unzulässige Weise wurde die Ablasspraxis in ein für die Kirche sehr einträgliches Geschäft umgewandelt.
Pfarrerin Kathrin Oxen wurde 1972 in Neustadt/Holstein geboren. Sie studierte evangelische Theologie in Wuppertal und Berlin. Nach ihrer Ausbildung war sie von 2004 bis 2011 Pfarrerin der evangelisch-reformierten Kirche in Mecklenburg.
2009 erhielt sie den Ökumenischen Predigtpreis in der Kategorie „Beste Predigt“. Seit 2012 leitet sie in Wittenberg das Zentrum für evangelische Predigtkultur der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), eine bundesweit arbeitende Fortbildungseinrichtung für Pfarrerinnen und Pfarrer.
Sie arbeitet als Autorin und Herausgeberin und spricht Radioandachten bei MDR Sachsen-Anhalt. Kathrin Oxen ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in einem Dorf bei Wittenberg.
Was Luther nicht wusste: Der Handel mit dem Ablass geschah auf Initiative seines Erzbischofs, Albrecht von Brandenburg. Der brauchte Geld - zum einen musste er für den Bau des Petersdoms Geld nach Rom abführen. Zum anderen hatte er hohe Schulden, weil er seine Macht vergrößern und einen weiteren Bischofssitz übernehmen wollte. Für die Erlaubnis dazu musste er aus eigener Tasche eine hohe Summe an den Papst zahlen.
Mit seinen Thesen gegen den Ablass stach Martin Luther also unfreiwillig in ein Wespennest höchst fragwürdiger kirchlicher Geldgeschäfte. Die Ablassthesen waren aber an sich kein Reformpapier, sondern theologisch-seelsorgerliche Überlegungen zum Thema Buße. Sie beginnen mit der Aufforderung, die Buße als Teil eines christlichen Lebens zu verstehen: „Als unser Herr Jesus Christus sprach „Tut Buße“, wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei“ (These 1).
Luther setzte Reformationsbewegung in Gang, die sich nicht mehr aufhalten ließ
Seine Abscheu gegenüber den Praktiken des Predigers Tetzel benennt Luther deutlich: „Lug und Trug predigen diejenigen, die sagen, die Seele erhebe sich aus dem Fegfeuer, sobald die Münze klingelnd in den Kasten fällt“ (These 27). Er hinterfragt allerdings auch schon den Wunsch des Papstes nach dem repräsentativen Neubau des Petersdoms: „Warum baut der Papst, dessen Reichtümer heute weit gewaltiger sind als die der mächtigsten Reichen, nicht wenigstens die eine Basilika des Heiligen Petrus mehr von seinen eigenen Geldern als von denen der armen Gläubigen?“ (These 86).
Luther war überzeugt, dass die Verwandlung der Buße in ein Geschäft den Menschen am Ende mehr schadet als nützt: „Denn durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe, und der Mensch wird besser. Aber durch Ablässe wird er nicht besser, sondern nur freier von der Strafe“ (These 44).
Ausgangspunkt für die Ablassthesen waren also Martin Luthers Erfahrungen in der Seelsorge. Seine theologischen Überlegungen zum Thema Buße wollte er eigentlich nur in seinem wissenschaftlichen Umfeld an der Universität diskutieren. Das kirchenkritische Potenzial seiner Thesen sahen andere. Sie kannten die Hintergründe des Ablassgeschäfts und der damals üblichen kirchlichen Macht- und Finanzpolitik.
Die Thesen aus Wittenberg verbreiteten sich durch die neuen Möglichkeiten des Buchdrucks sehr schnell in ganz Deutschland. Auch wenn die 95 Thesen inhaltlich nur am Rande auf eine Reform der Kirche zielten, setzte Martin Luther mit ihrer Veröffentlichung eine Reformbewegung in Gang, die sich nicht mehr aufhalten ließ. Reformation heißt bis heute, herrschende Verhältnisse in Kirche und Staat zu hinterfragen und zu überprüfen, in welchem Verhältnis sie zu Grundwerten des christlichen Glaubens wie Nächstenliebe, Gewaltverzicht und Besitzlosigkeit stehen. (mz)
