Lebensweg Wie ein Paar in der Altmark edle Möbel und mehr kreiert
Kerstin und Miles Rice bewahren Handwerkstraditionen. Die engagierte Unternehmerin und der preisgekrönte Möbeldesigner lassen ihren Visionen auf einem herrschaftlichen Gut im altmärkischen Seehausen freien Lauf.

Seehausen/MZ - Die Altmark ist wie geschaffen für großstadtmüde Menschen, die nach Grün gieren. Nach frischer Luft und Platz. Viel Platz. Wer genau hinsieht, findet die Unternehmer und Pendler, Schloss-Renovierer und IT-Spezialisten, die sich an Orten niederlassen, nach denen früher kein Hahn gekräht hätte. Sie eint, dass sie raus wollen, um sich entfalten zu können. Ein bisschen von allem spielt vor vier Jahren eine Rolle, als Kerstin und Miles Rice das Rittergut Schönberg bei Seehausen kaufen.
Da ist Miles Rice schon ein gefragter Möbeldesigner, bekannt für Stücke, die durch Liebe zum guten alten Handwerk bestechen. Das Paar hat mit dem Anwesen einen Platz für sich und die zwei kleinen Töchter gefunden. Ein Zuhause, das zugleich eine Heimstatt für die visionären Ideen des Möbeldesigners aus England und die ambitionierten Pläne seiner Frau aus Thüringen werden kann.
Das Gut zwischen den Feldern spricht das Paar sofort an. Ein großes Haus, aus dem der Vorbesitzer ein Landhaus im portugiesischen Stil machen wollte: gelbe Fassade, grüne Fensterläden, Fliesen im Treppenaufgang, ein verwunschen wirkender Garten, eine herrschaftliche Terrasse, große Räume. Das Anwesen hat seit dem 13. Jahrhundert schon Viele und Vieles beherbergt. Ein Ritter war vermutlich tatsächlich dabei, und der Bruder einer Meisterspionin. Lange Zeit war hier eine Schule untergebracht.
Nun lebt, denkt und arbeitet Miles Rice hier für seine Marke „Rittergut & Runnymede“. Die zweite Hälfte des Firmennamens ist eine Anspielung auf die Gegend von Runnymede in England, wo er einst seine Jugend verbringt. Er lächelt, erzählt, wie aus einem Fußbodenleger ein gefragter Designer geworden ist, der jetzt in Seehausen nach und nach ein altes Rittergut ausbaut.
Er streicht beim Erzählen über den Holztisch, der groß und extravagant den frisch sanierten Raum ausfüllt. „Ich wollte zeitlose, unerwartete Möbelstücke schaffen“, sagt er. „Sie sollten von Ehrlichkeit und Wertschätzung für das Material, das Handwerk und das Design durchdrungen sein.“ Genau das schätzt heute seine Kundschaft überall auf der Welt.
Moderne Kunst als Inspiration
Miles Rice kann Praktisches ins Design fließen lassen. Als Jungspund packt er damals in England überall mit zu, wo einfache Handwerksarbeit gefragt ist. Er lernt von der Pike auf, ist sich nicht zu schade. Dann will er mehr, beschäftigt sich mit Design. Mit Formen, Farben, Materialien. Er saugt Wissen auf, recherchiert, findet Vorbilder in Designern, die mit allem brechen, was als die „reine Lehre“ gilt.
Er ist ein Autodidakt, der den Kopf voller Ideen hat. Der das Material liebt, einen Baumstamm sieht und weiß, was daraus werden könnte. Er sagt: „Ich habe nie irgendwelche Regeln gelernt, also hatte ich auch nie Angst, sie zu brechen.“ Miles Rice tritt in die Fußstapfen der Handwerker der britischen Inseln, wird nach und nach zum Möbeldesigner, dessen Mantra lautet: „Leidenschaft kann man nicht lehren.“
Miles Rice probiert sich aus, denkt nicht in Grenzen. Nicht bei Design und nicht auf der Landkarte. Das gefällt vor 21 Jahren in Gotha auch seiner künftigen Frau. Er lernt die damalige Grundschullehrerin in einer Kneipe kennen. Sie tun sich zusammen, entwickeln Visionen, in denen die Liebe zum Handwerk eine Rolle spielt. Wo aus Material etwas wächst, das die Zeit überdauern kann. Miles Rice lässt sich – auch heute noch – dazu von moderner Architektur und Kunst inspirieren.
Ihr gemeinsamer Blick richtet sich auf einen Weg, der sie über viele Stationen, durch viele Städte führen soll. Auch die quirlige Frau aus Thüringen probiert sich aus. Auch sie hat ein Mantra. Ihres lautet: „Du musst nicht alles können, aber Du solltest Dir alles zutrauen.“ Das macht sie, arbeitet als Projektleiterin und in Managerjobs bei Unternehmen mit großen Namen wie Amazon oder American Express. Sie lacht bei der Frage, wie sie das gemacht hat: „Ganz einfach: Man muss zugeben können, dass man nicht alles weiß, und sich mit Menschen umgeben, die es wissen.“
Unterdessen reifen bei ihrem Mann die Ideen. Wenn er heute darüber sprechen soll, sagt er im Mix aus Englisch und Deutsch, dass er sich von den Eigenschaften des Materials inspirieren lässt. Heraus kommt dabei rückblickend irgendwann der Esstisch „Sculptura“. Kerstin Rice sagt: „Als ich diesen Tisch gesehen habe, wusste ich: Das ist es.“ Damit geht es los. Die Designmarke ist geboren.

Im Rittergut-Salon kann man sehen, was den Tisch so besonders macht. Groß ist er, und wirkt doch leicht, wie aus einem Guss. Eingeflossen sind in das Möbelstück aus Esche nicht nur Erfahrungen und die Intuition von Miles Rice, sondern auch die Kunst der Hände. Um es vorwegzunehmen: Der Möbeldesigner wird später jahrelang nach spezialisierten Handwerksmeistern suchen, die seine Ideen umsetzen, sie vor allem in Großbritannien finden.
Die Tischler setzen moderne und traditionelle Techniken im Mix ein, nutzen Drehmaschinen und Schwalbenschwanzverbindungen, wo Holz in Holz greift. Einige Verfahren werden im Schiffbau angewendet, um die Festigkeit zu garantieren. Auch hier überschreitet Miles Rice Grenzen, verschiebt sie im Design und entdeckt altes Handwerk neu. Genau darum wird sich in Seehausen noch viel drehen.
Damals ahnt das Paar indes noch nichts davon, dass die roten Fäden seines Engagements zur Bewahrung des alten Handwerks einmal in Sachsen-Anhalts Norden zusammenlaufen. Die Altmark? Ist noch meilenweit entfernt. Der englische Möbeldesigner fällt erst einmal mit Skizzen bei Designwettbewerben in New York auf. Das Paar investiert Geld und Zeit in den Tisch und in Schränke. Erste Möbel werden für Ausstellungen geordert. Kerstin Rice zieht durch die Lande, klopft an viele Türen. Die Frage „Warum machen wir das?“ habe sich nie gestellt, sagt sie. „Wir wollten das einfach.“ Dann passiert vieles gleichzeitig.
Ein Durchbruch ist die Präsentation bei „Rolls Royce“. Sie stellen dort für die besten Kunden der Luxusmarke einige Prototypen aus. Dass es dazu kommt, ist der Unerschrockenheit der Thüringerin zu verdanken, die unermüdlich Klinken putzt, Mails schreibt und beim wichtigen Meeting auch schon mal mit Baby auftaucht. Zusammen heben sie die erste Firma „Rice & Rice Fine Furniture“ aus der Taufe. Mission: zeitlose Designermöbel erschaffen. Die hat sich nicht verändert, auch, wenn die Marke anders heißt.
Methoden aus dem Schiffbau
Später gründet Kerstin Rice noch „1720“ und legt damit den Grundstein dafür, was heute das Rittergut in der Altmark prägt. Der Verfechterin des Kunsthandwerks geht es bei dieser Organisation um die Bewahrung alter Handwerkstechniken und des kulturellen Erbes. „Ich habe unter anderem mitbekommen, dass nach 400 Jahren die Tradition der Stuhlherstellung im sächsischen Rabenau wohl aussterben wird“, sagt sie. Heute werden bei „1720“ Stühle in limitierter Auflage hergestellt.
Daneben kümmert sich die junge Rittergut-Besitzerin darum, dass Fertigkeiten weitergegeben werden und Vernetzung stattfindet. Das Designhaus „Rittergut & Runnymede“ steuert eine moderne Interpretation eines Lese-Sessels bei: einen einarmigen Stuhl, den Miles Rice – inzwischen mehrfach international ausgezeichnet – entworfen hat.
Einige dieser Stühle stehen rund um den Tisch, an dem Kerstin Rice Fotos und Papier ausbreitet. Es gibt so viel zu sagen. Im sonnendurchfluteten Raum zum Hof hinaus sind kleine Modelle von Möbeln verteilt. In den Ecken des Flures imponieren große Holzstücke. Der Tisch im Salon steht für alles, was es zu sagen gibt: Für die geschwungenen, handgeformten Beine werden traditionelle Tischlermethoden eingesetzt, die sonst nur im Schiffbau zu finden sind. Das komplizierte Design verbirgt sich hinter einer einfachen, stromlinienförmigen Form.
Hier erzählt Kerstin Rice auch von ihrem Engagement für „ARCH – der Alliance for Rare Crafts Heritage“, dem globalen Netzwerk, das sich dem Schutz gefährdeter Handwerkskünste widmet. „Wir möchten das handwerkliche Erbe bewahren, erweitern und wiederbeleben“, sagt sie.
Die Frau denkt weiter grenzenlos, arbeitet mit Gleichgesinnten – ob in Indien, Großbritannien, Kanada – daran, dass rar gewordene Handwerksberufe in der nächsten Generation überleben könnten. Sie möchte ihren Anteil beisteuern, holt solche großen Themen auch in die Region, engagiert sich in nationalen Gremien und direkt vor Ort. Ihr sei es wichtig, zu vermitteln, dass es sich lohnt, im Handwerk tätig zu sein, sagt sie. „Etwas mit den Händen zu erschaffen, tut der Seele gut.“