Anschlag von Magdeburg Taleb A. muss hinter Panzerglas - so lief der erste Prozesstag gegen den Attentäter
Es geht um sechsfachen Mord und 309 Verletzte: Mit höchsten Sicherheitsvorkehrungen ist in Magdeburg der größte Strafprozess der Geschichte Sachsen-Anhalts gestartet. Der Attentäter redet viel, sagt aber wenig – und muss das Verfahren hinter Panzerglas verfolgen.

Magdeburg/MZ - Der Angeklagte will nicht im Panzerglas-Kasten sitzen. Taleb A. trägt Handschellen, als er 9.30 Uhr an diesem Montag den Gerichtssaal betritt. Den Saal, der nur wegen ihm gebaut wurde. Der Saal, der so groß ist wie ein Fußballfeld. 17 Tischreihen sind hier hintereinander aufgebaut, alles ist bereit für 220 Nebenkläger und deren Anwälte. Rund 80 von ihnen sind heute ins Gericht gekommen: Sie warten auf den Attentäter von Magdeburg, dem ab heute der Prozess gemacht wird.
Taleb A. hat sich in elf Monaten Haft einen grauen Bart stehen lassen, der ihm bis auf die Brust reicht. Die Zeit im Gefängnis ist ihm anzusehen, das gepflegte Äußere von früher ist weg. Vor fünf Tagen ist der Saudi 51 Jahre alt geworden – jetzt führen ihn bewaffnete Uniformierte einer Justiz-Spezialeinheit in seinen Glaskasten. Gelb lackierter Metallrahmen, zu allen Seiten Panzerglas. Ein Tisch und Stühle für den Angeklagten. Neben Taleb A. sitzen seine Verteidiger – und direkt dahinter zwei vermummte Spezialkräfte mit Waffe im Holster. Weitere Beamte umstellen den Glaskasten.
Jetzt meldet sich A.s Anwalt zu Wort, gleich zu Beginn dieses Prozesses. Thomas Rutkowski ist mit dieser Panzerglas-Konstruktion für seinen Mandanten nicht einverstanden. Er hält den schusssicheren Kasten für völlig „unverhältnismäßig“, sagt der Anwalt aus Helbra (Mansfeld-Südharz). Ob das Gericht Taleb A. der „Weltöffentlichkeit im Käfig präsentieren“ wolle, fragt Rutkowski. Mittlerweile habe doch sogar die Bundesanwaltschaft festgestellt, dass es in diesem Prozess juristisch gesehen nicht um Terror gehe, betont der Rechtsanwalt. Und überhaupt: Es komme doch sowieso niemand in dieses Gerichtsgebäude herein, ohne vorher gründlich von Justizbeamten durchsucht zu werden.
Land baute neues Gerichtsgebäude für 1,7 Millionen Euro
Das stimmt. Dutzende Polizisten patrouillieren schon seit dem Morgengrauen vor dem Gerichtsgebäude in Magdeburg. Wer rein will, wird gefilzt: Taschenkontrolle und Körperscanner für alle. Weil noch nie in der Geschichte Sachsen-Anhalts so viele Nebenkläger, Journalisten und Zuschauer zu einem Gerichtsverfahren erwartet wurden, ließ das Land extra ein Prozessgebäude auf einer Brachfläche in Magdeburg bauen. 1,7 Millionen Euro Steuergeld flossen für den Leichtbau, noch teurer wird es durch den monatelangen Betrieb – bis das Haus am Ende dann wieder abgebaut wird.
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Jetzt beschwert sich A.s Anwalt Rutkowski, dass außerdem auch die Lüftung in seinem schusssicheren Glaskasten „unzumutbar“ laut sei. Auch seien keine Luftbefeuchter eingebaut. „Man merkt natürlich die trockene Luft hier drin, wenn man viel spricht“, sagt der Anwalt. An dieser Stelle greift Richter Dirk Sternberg das erste Mal ein: „Dann nehmen Sie mal einen Schluck Wasser dazu.“
Der Richter lehnt Rutkowskis Antrag ab – der Glaskasten für den Angeklagten bleibt. Das Panzerglas solle „Racheakte“ verhindern, begründet Sternberg. Es soll also Taleb A. schützen. Und Oberstaatsanwalt Matthias Böttcher redet dem Verteidiger aus Helbra zu: „Die Situation ist nicht anders als in jedem normalen Gerichtssaal.“
Generalstaatsanwaltschaft listet 309 teils lebensgefährlich Verletzte auf
Allerdings: Heute ist nichts normal in Magdeburg. Es ist der größte Strafprozess, den das Bundesland je gesehen hat. Und es geht um eine monströse Tat. Sechs Menschen starben durch Taleb A., als er im Dezember 2024 mit einem BMW über den Magdeburger Weihnachtsmarkt raste.
Zudem zählt Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwaltschaft 309 teils lebensgefährlich Verletzte in ihrer Anklage auf. „Zielgerichtet“ habe A. das Fahrzeug in die Menschenmenge gelenkt, liest Oberstaatsanwalt Böttcher am Morgen aus der Anklage vor. Taleb A. habe „eine möglichst große Anzahl von Personen“ töten wollen. Die Strafverfolger glauben auch: Dass nicht noch mehr Menschen starben, liegt nur daran, dass sich viele Passanten in letzter Sekunde vor dem Aufprall retteten.
Wie außergewöhnlich das Ausmaß dieses Prozesses ist, zeigt allein die Anklageschrift. Drei Finger dick ist der Papierstapel, aus dem Oberstaatsanwalt Böttcher mehr als zwei Stunden vorträgt. 206 Seiten hat die Anklageschrift, 34 davon lesen Böttcher und sein Kollege vor – sie müssen sich abwechseln, weil es so viel Text ist.
Lehrerin entgeht dem Frontalaufprall, weil ein Schüler sie rettet
Jeder Verletzte wird aufgelistet, jeder direkt Betroffene des Anschlags wird schon in den ersten Prozessminuten einzeln benannt. Es sind mehr als 300 Schicksale, die zusammen einen furchtbaren Film vom Anschlagstag ergeben.
Da ist die Frau, die vor Taleb A.s heranrasendem Auto fliehen will. Trotzdem wird sie zwischen den Weihnachtsmarktbuden überrollt, erleidet einen Trümmerbruch im Unterschenkel.
Da ist der Mann, der so hart auf dem heranrasenden Auto aufschlägt, dass er ohnmächtig wird.
Da ist die hochschwangere Verletzte, deren Fruchtblase durch das Attentat platzt. Ihr Kind kommt am Tag darauf zur Welt.
Und da ist die Lehrerin, die den Abend mit ihren Schülern auf dem Weihnachtsmarkt verbringen will. „Ein Schüler konnte sie im letzten Moment zur Seite ziehen, so dass sie nicht frontal von dem Fahrzeug getroffen wurde“, dokumentiert die Anklageschrift. Das heranrasende Auto trifft die Frau nur seitlich, sie wird verletzt. Aber sie überlebt.
Generalstaatsanwaltschaft sieht „Kränkung und Frustration“ als Motiv
Zwei Stunden listet die Generalstaatsanwaltschaft jede Verletzung auf, die Taleb A. auf dem Gewissen haben soll. Der Saudi habe „aus eigener persönlicher Kränkung und Frustration“ gehandelt, glauben die Ankläger. Bereits vor dem Prozess ist bekannt: A. sah sich in einem heftigen Streit mit einer Kölner Flüchtlingsorganisation. Und: Er überhäufte über Jahre hinweg Polizei, Ministerien und Behörden mit zahlreichen Beschwerden, Anzeigen und anderen Zuschriften. „Vielschreiber“, so haben Polizisten Taleb A. in der Vergangenheit kategorisiert. Es ist ein anderes Wort für Querulant.
Zahlreiche Zeitungen, Fernsehsender und Nachrichtenagenturen – auch aus dem Ausland – kommen am Montag nach Magdeburg, um Taleb A.s Erklärung für seine Todesfahrt zu hören. „Ja“, sagt der ausgebildete Psychologie-Facharzt entschlossen auf die Frage von Richter Sternberg, ob er eine Aussage zu den Vorwürfen machen wolle. Dass der bärtige Häftling etwas mitzuteilen hat, ahnen die Gäste im Gericht von Anfang an: Hinter seiner Panzerglasscheibe sitzend streckt A. immer wieder seinen Laptop Journalisten und Prozessbeobachtern entgegen. „Sept. 2026“ steht darauf. Und: „#MagdeburgGate“.
Es bleibt unklar, was genau A. damit sagen will. In seiner fast anderthalb Stunden langen Aussage springt er von Thema zu Thema. Erst wütet der erklärte Anti-Islam-Aktivist über angeblich „linksorientierte Medien“ in Deutschland („Sie werden manipuliert und Sie werden getäuscht!“). Dann sagt der Saudi in seiner hellen Stimme: „Ich bin derjenige, der das Auto gefahren hat.“ Und wischt sich Tränen weg. Eine Familie spricht er persönlich an, es klingt wie eine Entschuldigung. „Ich möchte um Verzeihung bitten“, sagt der Angeklagte. Es bleibt unklar, für was genau – auch weil er einen Teil der Sätze verschluckt.
Taleb A. glaubt: „Die Magdeburger Polizei lügt“
Minuten später wütet er dann wieder über die „korrupte Organisation aus Köln“ und behauptet: „Die Magdeburger Polizei lügt.“ Dann kommt Taleb A. irgendwann auf den September 2026 zu sprechen. „Da ist die nächste politische Wahl Sachsen-Anhalts“, sagt er. „Da können Sie die drei deutschlandfeindlichen Parteien – die CDU, SPD, und die Grünen – rausschmeißen.“
Es ist schleierhaft, was das mit dem Prozess zu tun hat. Oder wen der Angeklagte überhaupt ansprechen will. Mehrmals muss Richter Sternberg A. ermahnen, dass politische Aufrufe hier nicht hingehören. „Wenn Sie das nochmal machen, muss ich Ihnen das Wort entziehen“, sagt der Jurist.
Wenn Hinterbliebene und Opfer vor dem Prozess Fragen an den Todesfahrer hatten: Durch die Aussage von Taleb A. dürften sie nur noch größer geworden sein. Allerdings können offene Fragen bald direkt an ihn gerichtet werden – wenn die Nebenkläger in diesem Strafprozess an der Reihe sind.