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  7. Tag der Deutschen Einheit: Warum die Wiedervereinigung unvollendet ist

MZ-Leitartikel zum 3. Oktober Die erfolgreiche, unvollendete Einheit

In Ostdeutschland wächst die Unzufriedenheit mit dem 1990 übernommenen System der Bundesrepublik. Das hat Gründe - einen Ausweg weisen könnten zwei Dinge, die schon 1990 funktionierten.

Von Hagen Eichler Aktualisiert: 01.10.2025, 16:01
MZ-Kommentator Hagen Eichler
MZ-Kommentator Hagen Eichler (Foto: Andreas Stedtler)

Magdeburg/MZ - Bahnfahrer, die Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt aus Richtung Norden erreichen und den Blick aus dem Fenster schweifen lassen, bekommen kurz vor dem Hauptbahnhof einen besonderen Anblick geboten: In einem Schrebergarten weht eine Flagge der DDR.

Sie ist dort seit Jahren gehisst – auch jetzt vor dem Feiertag, an dem sich das Ende der deutschen Teilung zum 35. Mal jährt. Man sollte diese Symbolik nicht falsch interpretieren. Unwahrscheinlich, dass der Gartenpächter die Diktatur einer marxistisch-leninistischen Partei zurückhaben will, mitsamt Stacheldraht und Schießbefehl.

Tag der Deutschen Einheit: Unzufriedenheit in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung

Aber: Aus heutiger Sicht wirken Aspekte des Lebens im Sozialismus auf nicht wenige Menschen durchaus freundlich. In den Geschäften gab es zwar wenig Auswahl und teils auch Mangel – aber für einen Großteil der Bevölkerung ein hohes Maß an Gleichheit. Die Einschränkungen der Freiheit waren schwerwiegend, aber gleichbleibend und kalkulierbar. Das Leben war erschütterungsfrei und fühlte sich sicher an – jedenfalls dann, wenn man nicht das System herausforderte.

Dennoch haben die Menschen in der DDR das SED-Regime 1989 voller Überzeugung gestürzt und sich 1990 für die deutsche Einheit entschieden. Wer heute Bilanz ziehen will, muss zunächst anerkennen, dass diese staatliche Einheit von kaum jemandem in Frage gestellt wird. Es gibt keine ernsthaften Bestrebungen, Ostdeutschland abzuspalten. Was es sehr wohl gibt, ist Unzufriedenheit mit dem 1990 übernommenen politischen System. Diese Unzufriedenheit nimmt sogar zu.

Ostdeutschland hat bis heute Nachteile aus dem Sozialismus

Die Wurzel dieser Enttäuschung sind zweifelsohne die bis heute nicht überwundenen ökonomischen Unterschiede. Ostdeutsche verdienen im Schnitt weniger, besitzen und vererben weniger, sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen unterrepräsentiert.

Das ist die Folge davon, dass 1990 ein ökonomisch ausgelaugter Staat einem größeren und deutlich potenteren Staat beitrat. Der Osten übernahm das im Westen erprobte System der Bundesrepublik, nicht umgekehrt. Er verknüpfte damit aber auch Erwartungen.

Wiedervereinigung: Unzufriedenheit trifft auch Westdeutsche an sich

Wer darauf hoffte, dass Rechtsstaat, Marktwirtschaft und ein Mehrparteiensystem mit freien Wahlen das Leben besser machen würden, dürfte heute zufrieden sein. Wer erwartete, dass Ost- und Westdeutsche 35 Jahre nach der Einheit exakt gleich leben würden, so, als hätte es die erzwungene 40-jährige Zugehörigkeit des Ostens zum sowjetischen Machtbereich nie gegeben – der muss enttäuscht sein.

Die Unzufriedenheit eines relevanten Teils der Bevölkerung richtet sich nun nicht gegen die ursprünglich Verantwortlichen, also die einstigen Herrscher der DDR, sondern gegen die aus der Bonner Republik stammenden Parteien und bei einigen auch gegen die Westdeutschen an sich. Enttäuschte Erwartungen von einst werden so zur Belastung.

Am 3. Oktober 2025 ist Einheit weiter unvollendet

Aus diesem Dilemma gibt es leider auch keinen schnellen Ausweg. Wir fühlen uns als ein Volk, weshalb man die Wiedervereinigung gelungen nennen darf. Aber gerade weil wir ein Volk sind, ärgern uns fortdauernde Nachteile – was die Einheit zu einer unvollendeten macht.

Den Autor erreichen Sie unter: [email protected]

Was also tun? Wir könnten uns auf zwei Dinge besinnen, die 1990 sehr erfolgreich ausprobiert wurden. Das eine ist: mitmachen, sich politisch betätigen, für Forderungen kämpfen. Die Institutionen sind da, sie müssen nur genutzt werden.

Das zweite ist unser privates Verhalten. Nach dem Mauerfall waren die Menschen in Ost und West neugierig aufeinander. Sie sahen Unterschiede, glaubten aber an eine gemeinsame, bessere Zukunft. Dieser Geist würde unserem Land heute sehr gut tun.