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Sachsen-Anhalt vor 100 Jahren Namensstreit in Magdeburg

Oktober 1924: Was bewegte damals die Menschen in Anhalt und der preußischen Provinz Sachsen, aus denen Sachsen-Anhalt hervorging?

Von Manfred Zander 13.10.2024, 10:00
Der Staatsbürgerplatz in Magdeburg hieß früher Kaiser-Wilhelm-Platz. Über den Namen wurde gestritten.
Der Staatsbürgerplatz in Magdeburg hieß früher Kaiser-Wilhelm-Platz. Über den Namen wurde gestritten. Foto: Sammlung Zander

Halle/Magdeburg/MZ - Pechvögel genießen häufig – gewissermaßen als Trost für das ihnen anhaftende Missgeschick – das Mitgefühl ihrer Mitbürger. Beim Berliner Kaufmann Fritz Barth dürfte das anders gewesen sein. Mit 35 Mark in der Tasche war er vor hundert Jahren zur Magdeburger Rennwoche gekommen. Am Totalisator wollte er sein Geld vervielfachen.

Was aus dieser Hoffnung wurde, ließ sich in der Volksstimme vom 2. Oktober 1924 nachlesen: „Nach dem 3. Rennen war sein Geldbestand so weit zusammengeschrumpft, daß es weder zu einem letzten Versuch am Toto noch zur Rückreise ausreichte.“ Auf der Suche nach Rettung habe er in der Tasche eines anderen Besuchers eine Wettkarte erspäht. Barth wurde aber erwischt und der Polizei übergeben. Doppeltes Pech.

Ganz ähnlich erging es den Brüdern Walter und Fritz Köllner. Sie stahlen Anfang Oktober in der Halberstädter Liebfrauenkirche die aus dem 13. Jahrhundert stammende „Madonna mit dem Kinde“. Dann boten sie die Skulptur für einen Spottpreis einem Antiquitätenhändler in Berlin an. Pech für sie, dass der Kunsthistoriker Gustav Kramer das Kunstwerk erkannte und die Kriminalpolizei rief. Sie nahm die Diebe fest.

Walter Köllner erhielt zwei Jahre Zuchthaus, der jüngere Fritz zwei Monate. Und während beide Kirchendiebe noch ihr Pech beklagten, reiste die „Madonna mit dem Kinde“ unter Polizeischutz nach Halberstadt.

Sorgen mit Banden

Größere Sorgen bereiteten der Polizei im Oktober 1924 etliche Raubzüge in Burg, Schönebeck und Salzwedel. In der Nacht zum 4. Oktober überfielen drei maskierte und schwer bewaffnete Männer die Bahnhofskasse in Blankenhain im Kreis Sangerhausen. Kriminalisten aus Halle wurden herbeigerufen. Auch eine ausgesetzte Belohnung in Höhe von 1.000 Mark war hilfreich. 14 Tage später wurden mit Otto Spiegelberg und Gustav Jedermann aus Bornstedt bei Eisleben zwei der drei Täter festgenommen. Ein von ihnen zusammengeschlagener Bahnarbeiter war seinen Verletzungen erlegen.

Beileibe nicht immer waren die Ermittler so erfolgreich. Über einen Fall, der jahrelang offenblieb, berichtete die Volksstimme: „Zwei Vatermorde nach sechs Jahren aufgeklärt“. Im Jerichower Land waren im April 1918 Andreas Müller aus Gommern und sein Schwager Hoppe aus Grabow verschwunden. Fragen der Nachbarn beantworteten die Familien damit, dass die Väter ausgewandert seien.

Aber die Gerüchte blieben nicht folgenlos. In der Volksstimme hieß es dazu: „Auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft Magdeburg sandte jetzt das Ministerium des Innern den Berliner Kriminalkommissar Busdorf nach Grabow und Gommern.“ Und Otto Busdorf hatte Erfolg. Den drei Töchtern Hoppes entlockte er das Geständnis, dass ihr Bruder Albert den Vater im Wald beim Pflücken von Kienäpfeln erschossen habe.

Albert Hoppe wurde festgenommen. In Gommern fand Busdorf heraus, dass auch Müller von seinen drei Söhnen erschossen worden war. Nach einer erfolglosen Leichensuche in einem Steinbruchsee hatte er die Idee, den Acker der Familie umgraben zu lassen. Dort fanden sich Leichenreste. Die vier Söhne und ihre der Mittäterschaft verdächtige Mutter wurden ins Landgerichtsgefängnis nach Magdeburg gebracht.

Die Volksstimme hatte recht umfangreich über den Fall berichtet und durch die Überschrift kaum Zweifel an der Täterschaft der Familien zugelassen. Das trug ihr einen Hinweis des Rechtsbeistandes der Familie Müller ein. „Von einer Aufklärung des Mordes könne noch keine Rede sein; die Verhafteten seien nicht des Mordes überführt; die ersten Ermittlungen in dieser Sache seien kaum abgeschlossen.“

Doch sensationslüsterne Leser wurden im Oktober vor 100 Jahren oft fündig. Am 11. Oktober etwa zündelten zwei Schuljungen in der Nähe einer Scheune, um sich Kartoffeln zu rösten. Bald stand die Scheune in Flammen. Roggen, Weizen und Stroh im Wert von 70.000 Mark verbrannten. Am 14. Oktober dann vernichtete ein Feuer die Zuckerfabrik Wulferstedt im Kreis Oschersleben.

Und am 26. Oktober geschah in Halle ein furchtbares Unglück. Die Saale-Zeitung berichtete: „Im Hause Burgstraße 14 wurde Sonntagmittag die sechsköpfige Familie des Bauarbeiters Wettmann tot aufgefunden.“ Ausgelöst wurde die Katastrophe durch einen Rohrbruch und das dadurch in die Parterrewohnung der Familie Wettmann einströmende Gas.

Der 47-jährige Wettmann bewohnte dort mit seiner Frau, drei Söhnen im Alter von 20, 18 und 16 Jahren und einer 14-jährigen Tochter die Eckräume der Parterrewohnung. Die Familie war am Vorabend noch im Kino und erhielt gegen 23 Uhr wegen der Herzschwäche von Frau Wettmann den Besuch des Arztes Dr. Riehm. Am Sonntag rief ein Nachbar die Polizei, weil sich bis 11 Uhr bei Wettmanns niemand rührte.

Tragischer Gas-Tod

Besonders tragisch war, dass sich im Haus Burgstraße 14 keine Gasleitung befand. Bewohner des Hauses Burgstraße 13 hatten Gasgeruch wahrgenommen und das Gaswerk benachrichtigt. „Dort wird gegenwärtig gestreikt“, schrieb die Saale-Zeitung. „Die Streikenden verweigern auch die Notstandsarbeiten“ Ein Meister und ein Arbeiter der Wache hatten das Haus Burgstraße 13 gesichert. Aus der Burgstraße 14 wurde keine Gasbelästigung gemeldet.

Tatsächlich hatte der Gemeindearbeiterstreik besonders in Halle und Magdeburg städtische Dienstleistungen behindert. In beiden Städten verlangten deshalb die Stadtverwaltungen ultimativ die Wiederaufnahme der Arbeit und drohten andernfalls mit Kündigung. Aber erst am 31. Oktober verkündete die Volksstimme den Abbruch des Streiks.

Noch sind die Zeitungen – der Rundfunk in Deutschland feierte gerade seinen ersten Geburtstag – unersetzbar, wenn man auf dem Laufenden sein will. Auch die Zeitungen der Provinz Sachsen waren angesehen. Der Magdeburger General-Anzeiger schmückte sich gleich unterm Zeitungstitel mit der Aussage: „Die weitaus verbreitetste Tageszeitung Magdeburgs und der Provinz Sachsen.“ Und die auflagenschwächere Magdeburgische Zeitung aus dem Faber-Verlag galt als publizistisches Aushängeschild der Provinz und als älteste fortdauernd erscheinende deutsche Tageszeitung.

In der Sonntagsausgabe vom 19. Oktober 1924 war die Zeitung voller Trauer und teilte auf der ersten Seite mit: „Sonnabend morgen gegen 9 Uhr ist Dr. iur. Robert Faber, der Herausgeber der Magdeburgischen Zeitung, an den Folgen eines schweren Herzleidens gestorben.“ Faber war 55 Jahre alt geworden. Die Saale-Zeitung würdigte ihn am 21. Oktober als Mitbegründer und Ehrenvorsitzenden des Vereins Deutscher Zeitungsverleger. Der Verein selbst erklärte: „Tief erschüttert steht die deutsche Verlegerschaft an der Bahre dieses seltenen Mannes, in dem sie mit Stolz ihren Führer sah.“

Auch die sozialdemokratische Volksstimme würdigte den Verleger ihres Intimfeindes: „Seine vornehme Sachlichkeit ... nötigt ... auch den Gegnern Achtung und Anerkennung ab“. Noch in der Woche zuvor hatte sie Fabers Blatt der Hetze bezichtigt, weil sie in „fetten Lettern“ mitgeteilt habe, „daß gegen den Polizeipräsidenten Krüger die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Meineids erheben wird“. Der Vorwurf wurde nach zwei Prozessen gegen ein Gastwirtsehepaar erhoben.

Auch zu anderen Themen gingen die Ansichten der Volksstimme und der Magdeburgischen Zeitung vollkommen auseinander. Etwa beim Streit um eine neuerliche Umbenennung der vor zwei Jahren umgetauften Magdeburger Straßen, etwa der Erzbergerstraße – früher Beaumontstraße – , der Walther-Rathenau-Straße – früher Königstraße – oder des Staatsbürgerplatzes – früher Kaiser-Wilhelm-Platz.

Kompromiss im Namensstreit

Am 2. Oktober begründete der DVP-Stadtverordnete Dr. Greiner in der Stadtverordnetenversammlung einen entsprechenden Antrag: „Die marxistische Mehrheit, die damals die Straßen umgetauft hat, ist jetzt verschwunden, folglich ist es an der Zeit, dass man diese Spuren ihres Wirkens beseitigt. Wir verlangen das nicht aus agitatorischen Gründen, sondern weil sich kein Mensch an die neuen Namen gewöhnen kann. Wenn man die Judengasse in Rathenau-Straße umtaufen will, dann haben wir nichts dagegen.“

Nach dreistündiger Debatte wurde Dr. Greiners Antrag abgelehnt. Die Volksstimme amüsierte es köstlich, dass die Magdeburgische Zeitung „enttäuscht“ sei. Aber was wäre die Welt ohne Kompromisse. Als Gastwirt Otto Wolters darauf bestand, in einem Inserat als Geschäftsadresse „Kölner Str. (frühere Wilhelmstr. 18“) anzugeben, gaben die Mitarbeiter von Volksstimme-Anzeigenchef Wilhelm Lindau nach. Ebenso beim Inserat von Frauenarzt Dr. med. Lehmann, der seine Praxisanschrift in der „Walther-Rathenau-Str. (Königstr.) 19., I.) angab, oder beim Teppichhaus Julius Wolff, das unbedingt den Hinweis „Kronprinzenstraße“ hinter seiner Adresse „Kantstraße 4“ lesen wollte.