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MZ-Serie «Mit offenen Augen» MZ-Serie «Mit offenen Augen»: Wo das Land anfängt

Von Andreas Montag 14.10.2007, 18:34

Prettin/MZ. - Hier hört Sachen-Anhalt nicht auf, hier fängt es an. Auf diese Feststellung legt Helga Welz großen Wert. Denn hier, im Osten des Landes, wird die Elbe empfangen, im Nordwesten verabschiedet. Dort aber, wo der Respekt gebietende Fluss, der ihnen das Städtchen bei der großen Flut vor fünf Jahren fast weggespült hätte, ankommt, muss demnach ein besonderer Ort sein, argumentiert die 66-Jährige.

Sie ist seit 2001 Bürgermeisterin von Prettin, ehrenamtlich und mit ganzer Kraft. Weil sie so ist, wie sie ist. Weil es sie im Ruhestand nicht hält. Und weil Prettin ihre Heimat ist, an der sie mit ganzer Seele hängt. Punkt. Bloß kein Aufhebens um ihre Person, die Frau Bürgermeisterin ist auch in dieser Frage sehr entschieden. Und hält die 2 100-Seelen-Gemeinde, so friedlich und verträumt die Stadt wirkt, auf Trab. Man muss die Menschen ansprechen, zumal die jungen, sie müssen sich aufgehoben fühlen - so versteht man hier die Philosophie.

Was nicht heißen solle, dass nicht auch bei ihnen einmal etwas wie in Mügeln passieren könnte, wo Deutsche eine Gruppe von Indern bedroht und geschlagen haben. Aber sie sind sich der Gefahr bewusst, sagt die Bürgermeisterin, sie tun etwas dagegen. Und man kennt seine Pappenheimer ja auch. Es kann schon vorkommen, dass Helga Welz einen, der Probleme macht, freundlich ins Gebet nimmt. "Die kennen mich", sagt sie und lacht. Und grüßen schon von weitem.

Natürlich ist Prettin nicht die Insel der Glückseligen, wie sollte das auch gehen in solch geografischer wie wirtschaftlicher Lage. Reizvoll in der Elbaue gelegen, wiegt das landschaftliche Pfund doch weniger schwer, sieht man nur auf die Autokarte. Die großen Verkehrsströme machen einen Bogen um die Stadt, von einer Autobahn ist man weit entfernt. Das treibt die ersehnten Investoren nicht eben in Scharen heran, auch Erholungssuchende könnte man gewiss noch ein paar mehr verkraften.

Doch der Ruhesuchende wird sich belohnt finden, hat er sich erst mit der Fähre von Dommitzsch nach Prettin übersetzen lassen: Angler wie Radler kommen hier auf ihre Kosten, das Touristenzentrum einschließlich eines für Behinderte gebauten, komfortablen Bungalows ist nach dem Hochwasser von 2002 auf das Feinste hergerichtet worden. Überhaupt, das Wasser: Es hat, so schlimm es damals aussah, auch Gutes bewirkt.

Nicht nur, was das Materielle betrifft, so willkommen die großzügige Unterstützung war, um den zu 90 Prozent überfluteten Ort wieder bewohnbar zu machen. Aber Helga Welz rühmt auch das Gemeinschaftsgefühl, zumal die Verbundenheit mit den Helfern aus dem Westen. Leider sei dies inzwischen wieder abgeflaut, die alten, untauglichen Muster von Ossi und Wessi schlügen schon wieder durch, ärgert sich die Bürgermeisterin. Deprimiert ist sie deshalb noch lange nicht. Das Machbare tun und noch ein bisschen mehr - damit kommt Prettin nicht schlecht durch die Zeiten. Jeder Dritte Erwerbsfähige ist ohne Job, aber es gibt wenigstens Ein-Euro-Jobs vor Ort. Auch zur Betreuung im Jugendklub, der täglich außer sonntags geöffnet ist. Die jungen Leute haben ihn nach dem Hochwasser überwiegend selbst wieder hergerichtet. Auf die Jungen setzt die Bürgermeisterin, damit sie nicht alle fortgehen. Oder vielleicht einmal wiederkommen.

Um die 20 Vereine haben sie in Prettin, die Feuerwehr hat, anders als anderenorts, keine Personalsorgen. Und das Schloss Lichtenburg, einst vom Kurfürsten August von Sachsen für adelige Witwen umgewidmet und später von den Nationalsozialisten als eines der ersten Konzentrationslager missbraucht, ist endlich, nach langem Hickhack, in die Gedenkstättenstiftung des Landes übernommen worden. An Erinnerungsarbeit ist im Übrigen kein Mangel, auch vor Ort. Mehr als 30 Ehen sind seinerzeit zwischen Angehörigen der SS-Wachmannschaften und Frauen aus Prettin geschlossen worden, doch darüber spricht man bis heute nicht viel. Die Alten wollen nicht, die Jüngeren haben es schon nicht mehr erfahren. Ein heikles Kapitel.

Die Jüngsten kommen indes mit anderen Sorgen ins Rathaus. Etwa, weil sie ein Baumhaus bauen wollen. Da muss ihnen natürlich geholfen werden. Das ist die schöne Seite von Prettin: Dass man hier so praktisch ist. Die Dinge im Auge behält. Immerhin auch die unbequemen, fast versunkenen. Und die neuen. Nach Lösungen sucht und Ideen hat. Dort, wo Sachsen-Anhalt anfängt. Damit das keiner vergisst.