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Mord, der keiner war Bad Schmiedeberg: Tod eines 13-Jährigen erschüttert im März 2016

Von Alexander Baumbach 31.12.2016, 11:20
In Fabians Klassenzimmer hatten seine Mitschüler wenige Tage nach den tragischen Ereignissen einen Erinnerungstisch gestaltet.
In Fabians Klassenzimmer hatten seine Mitschüler wenige Tage nach den tragischen Ereignissen einen Erinnerungstisch gestaltet. Baumbach

Bad Schmiedeberg - Es ist ein Mord, der keiner war. Und selbst das ist ungewiss. Zu einem Mord im juristischen Sinne gehören Ermittlungen, ein Gerichtsverfahren, ein Urteil – und bestimmte Merkmale müssen erfüllt sein: Niedertracht etwa, oder Heimtücke. Bis ein Mord nachgewiesen ist, gibt es „nur“ einen Totschlag. Oder vielleicht „nur“ eine Körperverletzung mit Todesfolge.

In dem Fall, mit dem Bad Schmiedeberg im März 2016 bundesweit in die Schlagzeilen gerät, gibt es aber nicht mal einen Täter – obwohl man den Verantwortlichen für die Tat mutmaßlich kurz nach dem Auffinden der Leiche schon kennt. Der ist zur Tatzeit 13 Jahre alt. Juristisch damit nicht zu verfolgen. Obwohl da ein toter Junge im Gras liegt, hat die Justiz keine Straftat. Verrückte Welt.

Das kleine Dörfchen Eutzsch atmet auf. Mit dem ersten Spatenstich zur Ortsumfahrung soll nun bald Entlastung vom Verkehrslärm kommen.

Ein beiläufiger Kommentar im Stadtrat ist bei den Nachbarn keine Kleinigkeit: Pretzsch ist nicht mehr nur Ortsteil, die Pretzscher dürfen sich endlich wieder als das bezeichnen, was sie jahrhundertelang waren, als Städter.

Erst wurde es unter Wasser gesetzt, später mit Steinen beworfen und am Ende sogar beschossen - jetzt geht das Schleifer-Gebäude in Gräfenhainichen nun doch in Betrieb. Die ersten Flüchtlinge ziehen ein.

Seit Juli 2015 wurde gebaut, jetzt ist die Lecithin-Anlage der Firma Dreyfus in Betrieb gegangen. Die Produktionskapazität beträgt rund 2.500 Tonnen pro Jahr.

Dominierendes Thema ist natürlich die Landtagswahl. Im Landkreis Wittenberg waren insgesamt 109.844 Bürger wahlberechtigt, 69.680 und damit 63,4 Prozent beteiligten sich an der Wahl des Magdeburger Parlaments.

Im ehemaligen Katasteramt sind in einer neuen Dienststelle die Ausländerbehörde und der Fachdienst Asylangelegenheiten der Wittenberger Kreisverwaltung zusammengefasst worden. Mitte März öffnen sich die Pforten zur ersten Sprechstunde.

Aufregung in Wittenberg: Razzia der Polizei, es geht um Raub, Drogen, Falschgeld. Monatelang hatten Fahnder die Aktion vorbereitet. Zum Jahresende liegt das Verfahren noch bei der Staatsanwaltschaft.

Landwirte aus Wittenberg, Anhalt-Bitterfeld und Dessau-Roßlau haben die Straße am Zentrallager des Netto Marken-Discounts bei Coswig als Kundgebungs- und Übergabeort für eine Protestnote gewählt.

Zum Schmunzeln regt eine Provinzposse aus Gräfenhainichen an: Ein Wegweiser zwingt hier Radfahrer auf dem Radweg zum Absteigen vom Drahtesel. Mittlerweile ist das Problem gelöst.

Ebenfalls in Gräfenhainichen spielt ein Kriminalfall, der mit Hilfe einer Karnevalsmedaille geklärt werden konnte. Die Berliner Polizei konnte die Tatverdächtigen dingfest machen.

Der Fall beginnt schon merkwürdig. Am 7. März, einem Montag, veröffentlicht die Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost eine Vermisstenmeldung. Fabian, ein 13-jähriger Junge, wird in Bad Schmiedeberg gesucht. Die Polizei nennt einen Familiennamen, gibt eine Personenbeschreibung und ein Foto des lächelnden Kindes heraus.

In dem Moment aber, in dem die Pressestelle der Polizei den Fahndungsaufruf verschickt, macht der Pilot eines Polizeihubschraubers in der Nähe der Kurstadt eine Entdeckung. Er sieht die Umrisse eines menschlichen Körpers unter den laublosen Bäumen am Ortsrand. Polizisten am Boden eilen zur Fundstelle der Leiche. Schnell ist klar, dass die Vermisstenmeldung nun keinen Sinn mehr ergibt.

Es ist Nachmittag, als an dem kleinen Hügel zwischen Groß-Korgau und der Kurstadt die Kriminalpolizei eintrudelt. Experten der Kripo lassen sich in „die Lage“ einweisen. Die Feuerwehr kommt dazu. Ein Zivilfahrzeug der Rechtsmedizin rollt heran, mit Anhänger. Darin soll der Leichnam des Jungen abtransportiert werden.

Innerhalb weniger Stunden sind die Journalisten da. Fernsehteams versuchen, eine gute Perspektive auf den Hügel zu bekommen, an dem die Spurensicherung arbeitet. Gespenstisch bleibt die akustische Umgebung: kaum jemand spricht ein Wort.

Feuerwehrleute und Polizisten tragen den Sarg mit dem Leichnam des Jungen vom Berg weg. Im Westen, hinter dem Hügel, geht eine blutrote Sonne unter. Etwa in diesem Moment erscheint die Polizei an der Haustür des ebenfalls 13-jährigen Felix und will mit dem Jungen sprechen. Beide gehen in die gleiche Klasse der Sekundarschule in Bad Schmiedeberg.

Was mag in dem Jungen jetzt vorgehen? Er war am Sonntagnachmittag mit seinem Kumpel „räubern“. Was genau passiert ist an diesem Nachmittag, damit hält sich die Staatsanwaltschaft bedeckt. Fabian starb durch „stumpfe Gewalteinwirkung gegen den Kopf“, heißt es offiziell. War es ein Stein, mit dem Felix zuschlug? Ein Ast? Vielleicht haben beide eine Fechtszene nachgespielt?

Oder waren sie ernsthaft in Streit geraten, Felix packte die Wut und er schlug absichtlich so doll zu? Sicher ist jedenfalls, dass Fabian am Ende zu Boden ging. Noch Tage nach dem tödlichen Duell sind große Blutflecken auf dem Laub am Fundort zu sehen.

Einem Kamerateam eines Privatsenders kommt das gelegen. So braucht es für seine Dreharbeiten nicht die beiden mitgebrachten Ketchupflaschen aus dem Kofferraum zu holen.

Hat sich Felix zu diesem Zeitpunkt seiner Mutter anvertraut? Hat er geschwiegen, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden? Hat der Junge überhaupt in Betracht gezogen, dass sein Kumpel – den er am Ort des Geschehens zurückgelassen haben muss – vielleicht nicht mehr aufsteht und nach Hause geht?

Noch am Sonntag steht zum ersten Mal die Polizei vor der Tür. Man weiß, dass Fabian den Nachmittag mit Felix verbracht hat. Doch der schweigt.

Jetzt, am Montagnachmittag, steht die Polizei erneut vor der Tür. Festnahme? Nein, der Junge ist zu jung. Schuldunfähig. Das Jugendamt kommt mit ins Boot. Die Beteiligten sind sich schnell einig – das Beste in der Situation ist jetzt, den Jungen aus seiner Umgebung, aus seiner Lage herauszunehmen.

Nach Bernburg geht die Fahrt. Dort gibt es eine psychiatrische Klinik für Kinder und Jugendliche. Ist der Junge psychisch krank? Man wird es untersuchen. Auf jeden Fall aber ist hier für seinen Schutz gesorgt – denn auch der Täter, der juristisch keiner ist, wird sein Leben lang selbst die Tat mit sich herumtragen.

Unterdessen geht das Leben in Bad Schmiedeberg weiter. Irgendwie. Nicht nur zwei Familien wurden aus dem Alltag gerissen. Die Schulklasse der beiden Jungs steht kopf. Die ganze Schule steht unter Schock. Die ganze Stadt.

An Fabians Grab stehen kurz vor Weihnachten Blumen. An einer Grabschleife steht „Du bleibst immer ein Teil von uns“. Die beiden Grabkerzen und die Kuschelfigur von Super Mario am Fundort von Fabians Leichnam sind unterdessen unter nassem Herbstlaub halb begraben. Setzt das Vergessen damit ein in der kleinen Stadt?

Felix soll mittlerweile wieder in Bad Schmiedeberg sein. Auskünfte gibt das Jugendamt nicht. Datenschutz heißt es dort. (mz)

Anfang März wurde der Leichnam des Jungen gefunden.
Anfang März wurde der Leichnam des Jungen gefunden.
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Ein dreiviertel Jahr nach dem Leichenfund kommt das Vergessen.
Ein dreiviertel Jahr nach dem Leichenfund kommt das Vergessen.
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