Nach Tragödie Zug-Unglück in Kretzschau: Unfallopfer trifft nach 58 Jahren ihren Retter wieder

Kretzschau/Naumburg - Dieser Anruf hat Günther Prater sehr gerührt. Dabei wollte Karla Döhler dem Mann nur Danke sagen. Danke dafür, dass er da war, als sie und andere in großer Not waren. Danke, dass er dazu beigetragen hat, dass sie noch am Leben ist. Vielleicht, meint sie, ist er sogar ihr wirklicher Lebensretter.
Schweres Unglück in Kretzschau: Unfall-Opfer Karla Döhler will dem Mann danken, der als erster Helfer zur Stelle war
Das Unglück, das Karla Döhler widerfahren ist, geschah vor gut 58 Jahren - am Abend des 6. Juni 1959. Und erst jetzt, nach einem Beitrag in der MZ, hat Karla Döhler eine Möglichkeit gefunden, jenem Mann zu danken, der damals, nach einem schlimmen Lkw-Unfall in Kretzschau, als erster Helfer zur Stelle war - und ihn in ihre Naumburger Wohnung eingeladen. Um zu reden, um so viel wie möglich darüber zu erfahren, wie alles geschah.
Naumburgerin überlebte Lkw-Unfall in Kretzschau: Das Unglückkam wie ein Blitz aus heiterem Himmel
Karla Döhler war damals 13 Jahre jung. Heute ist sie 71. Günther Prater ist nun 89 Jahre alt und hat die Ereignisse immer noch im Kopf. „Man gewinnt Abstand, aber vergessen kann man nicht“, sagt er immer wieder. Karla Döhler nickt, auch wenn ihre Erinnerungen an den Tag, an dem sie beinahe ihr Leben verloren hätte, mit einem Schlag enden. Denn das Unglück, sagt sie, kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Gerade hatten die Pioniere, die hinter dem Fahrerhaus auf einem Lkw saßen, noch gesungen. Da krachte es, und Karla Döhler war bewusstlos. Von den Dramen, die sich um sie herum abspielten, habe sie nichts mitbekommen. Erst viel später sei sie im Zeitzer Krankenhaus aufgewacht.
Naumburgerin lag nach dem Unfall im Koma - danach musste sie viele Dinge neu lernen
Sie hatte bei dem Unfall einen Schädelbasisbruch erlitten und habe im Koma gelegen. Wie lange, weiß sie bis heute nicht. „Sehr lange“, sagt sie. Sie habe im Anschluss viele Sachen neu lernen müssen. Manche Erinnerung, so sagt ihr Mann Bernd (73), seien bis heute nicht vorhanden. Das, glauben sowohl Bernd als auch Karla Döhler, könnten durchaus Folgen des Unfalls sein.
Wie schlimm er war, sollte Karla Döhler erst später erfahren. Sechs Kinder sind gestorben, es gab 15 Verletzte, darunter viele Schwerverletzte. Bilder von der Katastrophe hatte sie bis heute nicht gesehen. Günther Prater hatte bei seinem Besuch Kopien von Fotografien von der Unfallstelle dabei.
Tödlicher Unfall in Kretzschau: Lkw fuhr trotz des nahenden Zuges über den Bahnübergang
„Schrecklich“, so die erste Reaktion von Karla Döhler, die von dem Mann, der seit fast 70 Jahren Feuerwehrmann und noch immer Chef der Alters- und Ehrenabteilung der Feuerwehren in der Verbandsgemeinde Droyßiger-Zeitzer Forst ist, mehr wissen wollte über den Unfall, über das Drama, das sie überlebt hat. Und Prater erzählte, wie er im Hof an seinem Auto schraubte, wie er den Zug hörte, der auf dem Gleis nahe seines Hauses vorbeifuhr. Wie er einen Knall hörte - und sofort wusste, da ist etwas schreckliches passiert.
Ein Lkw, der Kinder vom Pioniertreffen in Zeitz zurück nach Meineweh transportieren sollte, war trotz des nahenden Zuges und blinkenden Lichtsignals über den Bahnübergang gefahren und an der linken Hinterseite von der Lok erfasst worden.
Sechs Kinder starben bei Unglück in Kretzschau: Die Bilder wird auch Günther Prater nie vergessen
Der Aufbau wurde zertrümmert. Warum der Lkw-Fahrer, der später zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, nicht gehalten hat, vermag Prater nicht zu sagen. Zumindest soll er sein Fahrzeug abgebremst, dann aber wieder Gas gegeben haben. Doch er hat es nicht mehr geschafft, die Gleise vor dem Zug zu überqueren. „Wäre der Zug nur Augenblicke später da gewesen, hätte es der Laster geschafft“, glaubt Prater. Doch das Unglück war geschehen, tote Kinder mussten geborgen, Verletzte gerettet werden. Die Bilder werde er nie vergessen. Es war der schlimmste Verkehrsunfall, der im Raum Zeitz je geschehen ist.
Dabei sollte der Tag ein schöner werden, so Karla Döhler. Aber er hatte schon nicht ganz so gut angefangen. Denn sie und andere Kinder hatten kurz ins Zeitzer Sommerbad gehen wollen, aber man habe sie nicht hineingelassen, weil sie keine Badekappen dabei hatten.
Unfallopfer Karla Döhler spürt den emotionalen Schmerz noch heute: „Das ist eine ewige Wunde.“
Den Bahnübergang in Kretzschau gibt es nicht mehr. Anstelle der Schiene überquert nun ein Radweg die heutige Bundesstraße 180. Die Stelle zu passieren, vermeidet Karla Döhler. Und musste sie in der Vergangenheit doch einmal dort vorbei, habe sie festgestellt, dass ihr Herz sofort schneller schlug. Treffen mit anderen Überlebenden des Unfalls gebe es auch nicht.
Sie selbst habe in der Vergangenheit auch nicht gerne und lieber gar nicht über ihre Erlebnisse gesprochen. Ab und an, wenn sie das Grab ihrer Eltern auf dem Thierbacher Friedhof besuche, schaue sei auch an jener Stelle vorbei, wo drei ihrer tödlich verunglückten Schulkameraden letzte Ruhe fanden. Wenn sich der Tag des Ereignisses jährt, sei sie am liebsten in ihrer Wohnung. Und sie sagt: „Das ist eine ewige Wunde.“
Dennoch, sie sei froh, nun mit einem Menschen, der die Ereignisse miterlebt hat, über alles zu gesprochen zu haben. Das, so hofft sie, helfe vielleicht dabei, alles noch ein Stück weiter zu verarbeiten.
Tödlicher Unfall in Kretzschau: Ein MZ-Artikel hatte die beiden zusammengeführt
Dass Prater im Sommer mit der MZ über seinen schlimmsten Einsatz gesprochen hat, hatte einen traurigen Hintergrund. Auf der A9 bei Weißenfels war ein neun Jahre altes Mädchen tödlich verunglückt. Prater wollte den Einsatzkräften Mut zusprechen und helfen, Erlebtes zu verarbeiten.
Dabei, so sagte er, solle man sich seiner Tränen nicht schämen und es helfe, darüber zu reden. Den Beitrag hatte die in Zeitz lebende Zwillingsschwester von Karla Döhler gelesen und nach Naumburg geschickt. Karla Döhler hat sich überwunden, Günther Prater im Telefonbuch gefunden und ihn angerufen. Um Danke zu sagen und um reden zu können... (mz)
