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Heimat  Heimat : Auf der Saale bis zur Nordsee

Von Michael Heise 06.01.2017, 16:08
Von manchen Groschenkahn genannt: von einem schlesischen Tischler gebauter Kutter, der in den 1950er Jahren an der Saale nahe des Fischhauses lag und gern von jungen „Kapitänen“ als Abenteuerspielplatz genutzt wurde. Davor: Gudrun Lindner aus Bad Kösen.
Von manchen Groschenkahn genannt: von einem schlesischen Tischler gebauter Kutter, der in den 1950er Jahren an der Saale nahe des Fischhauses lag und gern von jungen „Kapitänen“ als Abenteuerspielplatz genutzt wurde. Davor: Gudrun Lindner aus Bad Kösen. Sammlung Lindner

Bad Kösen - Es sind Geschichten, die das Leben schreibt und die die Menschen begeistern. Die mit dem „Groschenkahn“ von Bad Kösen gehört dazu. Eine kleine Rückblende: Es war ein Brief von Günter Kuhlow (nicht Kühlow, das Häkchen über dem „u“ war nur ein flotter Strich) aus Rostock an unsere Zeitung, der alles in Bewegung brachte. Der heute 86-Jährige hatte 1950 für vier Wochen einen Kuraufenthalt in Bad Kösen verordnet bekommen und viel Zeit an der Saale verbracht, an einem Tag auch an einer seichten Stelle Richtung „Fischhaus“. Drei Jungen tummelten sich hier im Wasser, konnten plötzlich aber nicht mehr stehen und trieben ab. Kuhlow rettete sie. Diese Begebenheit schilderte der Rostocker quasi nebenbei, sein Anliegen war vielmehr ein anderes: Er suchte ein Foto von einem Kahn, wegen seiner Größe sogar ein Kutter, der am Saaleufer lag und damals ein heiß gehandeltes Ausflugsziel war. Auch, weil er ob seiner imposanten Größe viele Fragen aufwarf: Was bitteschön kann man mit einem Kutter auf der Saale anfangen? Dazu später.

Fotos aus dem Familienalbum

Die Veröffentlichung der Zuschrift aus Rostock im Tageblatt/MZ mit der Suche nach Fotomaterial sorgte jedenfalls für reichlich Aufmerksamkeit und Resonanz in Bad Kösen. Viele der älteren Semester erinnern sich noch gut an den wundersamen Kahn, die jüngere Generation fand Fotos in Familienalben. Thomas Budde beispielsweise, der uns eines zukommen ließ, das eben eine Familie auf dem Kahn sitzend zeigt. Glücklich sehen die drei aus. Und vielleicht waren sie gerade an einem Sonntag bei schönem Wetter auf dem Weg zum „Fischhaus“. Wer weiß.

Oder Gudrun Lindner. Sie überrascht mit einer Ablichtung, die das Boot in ganzer Schönheit zeigt, sogar mit Aufbau für den Steuermann. Sie schreibt dazu: „Mit diesem Foto hoffe ich, Herrn Günter Kuhlow aus Rostock eine Freude machen zu können, denn es zeigt den gesuchten Holzkahn in voller Größe. Wie man sieht, spielten auf dem Kahn immer ’junge Kapitäne’, die Mädchen nicht mitspielen lassen wollten...“. Nun, es ist Gudrun Lindner selbst, die da vor dem Super-Spielgerät steht, fotografiert 1952 von ihrem Vater. Ob er damals gewusst hat, welch interessantes und begehrtes Zeitdokument sein Schnappschuss werden würde?

In jedem Falle diente der Kutter, und so muss der Kahn wohl wegen seiner Bauweise und Größe von geschätzt zehn Metern richtigerweise genannt werden, mehr als Arbeits- denn Spielgerät. Zumindest war das der Plan des schlesischen Umsiedlers und Tischlers Alexi, den es mit dem Kriegsende nach Bad Kösen verschlagen hatte. Zeitzeuge und einstiger Museumsleiter Lutz Toepfer erinnerte sich, dass Alexi am Kutter Inflationsmünzen als Nieten verarbeitet hatte und deswegen auch der Begriff „Groschenkahn“ aufkam (wir berichteten). Historiker Klaus-Dieter Fichtner konnte noch anderes in Erfahrung bringen: „Die Nägel ließ Alexi in der Schlosserei Thieme in der Borlachstraße schmieden, die kleineren mit einem alten eisernen Groschen versehen, andere verzinkt.“ Der Rohbau des Schiffes, so meint Fichtner, sei in der Lindenstraße erfolgt. „Der Kutter war bis auf den Motor fertiggestellt, als er zur Saale transportiert wurde.“ Das, so Fichtner, soll auf zwei verbundenen Räderpaaren erfolgt sein.

So weit, so erklärlich. Doch was wollte Alexi mit einem Kutter, dessen Einsatzort wohl besser das Meer, ein Bodden denn ein Fluss wie die Saale sein könnte? Einer, der es weiß, ist Karl-Heinz Giesecke. Heute wie Kuhlow 86 Jahre alt, arbeitete er in den 1950er Jahren als Lehrling in besagter Schlosserei, in der Alexi Nägel schmieden ließ und mit dem er das ein odere Gespräch geführt hatte. Tageblatt/MZ konnte den Bad Kösener gestern zwar leider nicht erreichen, doch hatte er vorab Historiker Fichtner mitgeteilt, dass Alexi vorgehabt haben soll, mit dem Kutter über Saale und Elbe die Nordsee zu erreichen. Fichtner: „Seine Frau hatte in der Lindenstraße ein Gemüsegeschäft, dass er mit Fisch beliefern wollte und weshalb er den Kutter baute.“ Solche Ideen, meint Fichtner, habe es damals viele gegeben. Erstaunlich, war doch die Saale damals wie heute nicht durchgängig schiffbar oder nur unter größten Mühen. Und wie erst sollte der Fang flussaufwärts transportiert werden? Über viele Tage? Eine verrückte Idee hat da der Herr Alexi gehabt. Ein anderer Zeitzeuge vermutet sogar, dass in einem Schuppen in der Borlachstraße noch heute die Baupläne für den Kutter liegen. Nun, vielleicht passen sie ja mal, und man kann mit einem Kutter von Bad Kösen bis Hamburg tuckern. Zu spät aber für Schiffsbauer Alexi, der Ende der 1950er Jahre mit seiner Frau Bad Kösen verlassen hat - warum und wohin auch immer.

Zeitdokumente als Beweis

Günter Kuhlow aus Rostock hat jetzt eine Aufgabe: All das, was er mit seinem Schreiben ausgelöst hat, in seine Memoiren aufzunehmen, schon allein, um Geschwistern und Kindern beweisen zu können, was er bislang nur erzählen konnte, vor allem die Geschichte mit dem Kahn. Und überhaupt die vom Kuraufenthalt in Bad Kösen. Wie war der eigentlich? „Vier Wochen war ich in Bad Kösen mit einem Arbeitskollegen. Es waren schöne Sommertage, wir haben uns gut erholt, sind viel gewandert zu Rudelsburg und Saaleck“, so Kuhlow. Dass ihm das Retten der drei Jungs aus der Saale und damit der Kuraufenthalt in Bad Kösen beinahe das Leben gekostet hätte, erwähnt er beiläufig. „Zwei konnte ich gleich retten, den dritten erst viel weiter stromabwärts. Irgendwo bin ich ins Wasser gesprungen. Zufällig an der richtigen Stelle, da trieb der Junge mit ausgestreckten Armen und bewusstlos auf mich zu. Ich habe es selbst kaum noch aus dem Fluss geschafft, der Junge wurde wiederbelebt“, erinnert sich Kuhlow, der damals auf der Warnow-Werft arbeitete und an Bronchial-Asthma litt.

Material, das bislang fehlte

Ende gut, alles gut. Kuhlow war bald vom Asthma geheilt, befördert durch die Kur und den Umzug in eine trockene Neubauwohnung mit Fernwärme. Und er hat jetzt genau den Stoff für seinen persönlichen Rückblick auf die 1950er Jahre, der bislang fehlte. Vielen Bad Kösenern hat er ein Stück Erinnerung zurück gebracht. Mit Geschichten, die das Leben schreibt.