1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Wittenberg
  6. >
  7. Sonntagsvorlesung: Sonntagsvorlesung: Volker Leppin sucht in der Bücher-Fülle den echten Luther

Sonntagsvorlesung Sonntagsvorlesung: Volker Leppin sucht in der Bücher-Fülle den echten Luther

Von Karina Blüthgen 16.01.2017, 08:16
Volker Leppin aus Tübingen erläutert bei der ersten Sonntagsvorlesung im Jubiläumsjahr, was „Hinter der Heldengeschichte“ steckt.
Volker Leppin aus Tübingen erläutert bei der ersten Sonntagsvorlesung im Jubiläumsjahr, was „Hinter der Heldengeschichte“ steckt. Thomas Klitzsch

Wittenberg - Erinnerungen sind in der Regel trügerisch. Volker Leppin nennt sie einen Schleier, der sich oft verschönernd über das Gedächtnis legt. Das Beispiel von Martin Luther, so der renommierte Kirchenhistoriker aus Tübingen, belege, dass unser heutiges Wissen über den Reformator oft aus zweiter oder dritter Hand stammt und entsprechende Veränderungen erfahren hat.

Leppin schildert diesen Prozess anhand der berühmten Tischreden. „Luther erzählt etwas, er setzt also seine Erinnerungen ein und färbt sie damit. Der nächste Schritt ist, dass zwar mitgeschrieben wurde, wir aber keine Originalmitschriften mehr haben, sondern nur Abschriften davon“, zählt der Forscher auf.

Selbst die Mitschriften seien nicht wörtlich, Luthers offenbar wirklich derbe Sprache wurde von Schreibern wie Johannes Aurifaber bereits korrigiert, das belegt bei einer der Reden eine andere Mitschrift. „Luther ändert sich also schon im 16. Jahrhundert“, so Leppin.

Im Jubiläumsjahr der Reformation bieten die Sonntagsvorlesungen des Wittenberger Predigerseminars die Möglichkeit, einen Blick aus anderen Perspektiven auf Luther und die Auswirkungen der Veröffentlichung seiner Thesen vor 500 Jahren zu werfen. Am 19. Februar wird die Theologin Dorothea Sattler aus katholischer Sicht die Reformation betrachten. Die jüdische Perspektive auf Luther wird am 19. März betrachtet, die muslimische Sicht können Zuhörer am 23. April erfahren. „Wen interessiert’s noch?“ heißt es am 14. Mai, dann steht die Reformation im heutigen säkularen Bewusstsein im Fokus der Vorlesung. Schlussendlich widmet sich die Reihe am 18. Juni der Frage: „Was feiern wir als Evangelische?“

Wie also kommt man dem wahren Luther am nächsten? Offenbar, indem man viele Bücher liest, von denen es derzeit in Buchhandlungen nur so wimmelt. Mit dem Vortrag „Hinter der Heldengeschichte - Ergebnisse aktueller Lutherforschung“ ist die Reihe der diesjährigen Sonntagsvorlesungen des Evangelischen Predigerseminars gestern gestartet.

Der Kirchenhistoriker verweist aus der Fülle der aktuellen Literatur auf interessante Bücher und andere Veröffentlichungen und deren Sichtweisen und Thesen, soweit man das in einer einstündigen Vorlesung erschöpfend tun kann. Was er jedoch recht unterhaltsam gestaltet.

Der Kirchenhistoriker zieht nicht nur Luther-Biografien und Arbeiten über die Geschichte der Reformation heran, er benennt auch weniger bekannte Werke wie „Ablass und Reformation“ von Berndt Hamm oder die Dissertation von Natalie Krentz „Ritualwandel und Deutungshoheit - Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg“.

Dass Luther noch bis 1524 in Mönchskutte durch die Stadt gelaufen ist, mag man sich noch vorstellen. Dass er jedoch in Sachen der Erkenntnis, dass innere Reue und der feste Glaube bedeutsamer sind als das Sakrament der Buße, von dem Mystiker Johannes Tauler hat inspirieren lassen, überrascht dann schon.

Nicht weniger überraschend widmet sich der Referent der strittigen These, ob Luther eine seiner wichtigsten Erkenntnisse (Turmerlebnis) im Studierzimmer oder auf dem Abtritt hatte. Der „Turm“ tauche erst in späteren Schriften auf, vorher sei die „cloaca“ genannt. Die sieht Volker Leppin eher im metaphorischen Sinn. Luther habe mit dem Begriff das „Scheißhaus der Welt“, also die sündige Erde (im Gegensatz zum perfekten Himmel) gemeint.

„Die Abschreiber hatten damit jedoch ihre Mühe, so haben sie daraus einen konkreten Ort gemacht“, so seine Interpretation. Leppins Fazit: Luther ist weniger bekannt als gedacht. Er war zudem um vieles menschlicher und mittelalterlicher, als es bisher zumeist den Anschein hatte. Wirklich neu, so der Kirchenhistoriker, sei in den vielen jetzt erschienenen Büchern aber das wenigste. (mz)