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Obdachlos in Wittenberg Obdachlos in Wittenberg: "Wir sind für Unterbringung nicht für Betreuung zuständig"

Von Michael Hübner 25.01.2018, 13:32
Das ist eine Wohnung für Hilfsbedürftige im Wittenberger Haus der Wohnhilfe im Teucheler Weg.
Das ist eine Wohnung für Hilfsbedürftige im Wittenberger Haus der Wohnhilfe im Teucheler Weg. Thomas Klitzsch

Wittenberg - Es ist Montag, kurz nach 19 Uhr im Teucheler Weg: Es ist dunkel, kalt - die Meteorologen sprechen von gefühlten vier Grad Minus - und der Nieselregen verwandelt sich langsam in ein Schneetreiben. Die Suche nach einem Nachtasyl erweist sich als schwierig - niemand ist bei dem Wetter auf der Straße.

Und es gibt kein Schild, das auf das „Haus der Wohnhilfe“ hinweist, selbst am Plattenbau nicht. Wer sucht, wird aber an einem Klingelschild fündig. Doch beim Drücken auf „Diakonie“ passiert gar nichts. Das Büro ist unbesetzt. Drei Eingänge weiter steht ein junger Mann, der sich fast komplett eingemummt vor Kälte und Nässe schützt.

Inzwischen schneit es. „Nachtasyl, ja das ist hier“, sagt der Mann, „aber die Tür ist zu.“ Der Eingang fürs nächtliche Dach überm Kopf sieht nicht unbedingt vertrauenswürdig aus. Der Tür fehlt das Glas komplett. Der Zugang wirkt mit Holz und Papier verbarrikadiert. „Nach 20 Uhr kommt ein Beamter und schließt auf“, sagt der Mann. Die Botschaft ist deutlich: Noch eine Stunde Bibbern.

Hilfe bei Polizei und Leitstelle

Am nächsten Morgen - die MZ ist offiziell zum Besuch eingeladen - sieht alles viel freundlicher aus. Barbara Qadduri kann die nächtlichen Missverständnisse leicht erklären. „Nachtasyl muss bei uns bis 14 Uhr angemeldet werden. Später helfen Polizei oder die Leitstelle“, erklärt die Chefin, die aufschließt, das Asyl und auch die Wohnungen - hier muss bei separaten Zimmern das Bad gemeinsam genutzt werden - zeigt.

Es ist alles in Ordnung und sauber und „besser als auf der Straße“, betont Qadduri. „Wir sind für die Unterbringung, nicht für die Betreuung zuständig. Wir bieten Frühstück, Mittag und wenn es gewollt ist auch Abendbrot an, und es bestehen auch Möglichkeiten der Beratung“, verweist Qadduri auf ihr Team, das bereit sei, deutlich mehr als nur die Pflicht zu tun.

Laut Diakonie-Homepage handelt es sich um eine „wachsende Zahl von Menschen in unserer Stadt“, die Unterstützung benötigen. „Die zunehmende Hoffnungslosigkeit hat für die Betroffenen katastrophale Auswirkungen. Menschen, die durch Arbeitslosigkeit, Mietschulden, Familientragödien, Alkoholismus oder andere Schicksale in eine soziale Notsituation geraten sind, sollen für einen Teil des Tages von der Straße geholt und mit einem warmen Essen bzw. Getränk versorgt werden.“

Die Begegnungsstätte im Stadtzentrum wird rege genutzt. „Hier erfolgt eine sehr liebevolle Betreuung“, lobt eine Wittenbergerin, die einen Obdachlosen betreut und mit ihm auch Behördengänge erledigt. Die Ämter lobt sie allerdings nicht.

Ihr Schützling lebt auf der Straße. Sein Zuhause ist eine Bushaltestelle am Park. Die Obdachlosigkeit macht schon lange keinen Bogen mehr um die Lutherstadt. Es gab eine tödliche Tragödie. Schon einmal hat sich ein Mann eine Schlafstätte im Park in der Nähe des Tierparks gesucht. Er stirbt mit 52 Jahren im September 2016 im Vorraum einer Wittenberger Bank.

„Es ist kalt, es ist Winter, es ist zeitig dunkel“, hatte Olaf Kurzhals (SPD) im städtischen Kulturausschuss gesagt. Er habe Hilflosigkeit gespürt. Es könne nicht sein, sagt Kurzhals jetzt, dass ein Mensch den Orkan „Friederike“ in einer Bushaltestelle überstehen müsse - der Kampf des 48-Jährigen im Freien gegen das Unwetter sei unnötig.

„Ich habe die Stadt gebeten, kurzfristig zu helfen“, so der SPD-Mann, der bis Mittwoch keine Antwort erhalten hat. Es gehe doch nicht um eine Wohnung, sondern um ein Zimmerchen. Diese Aufgabe sei nicht unlösbar. So habe ein kommunaler Vermieter genügend „freie Gästewohnungen“.

Angebot reicht nicht aus

„Es wurden Unterkünfte im Teucheler Weg angeboten“, sagt Stadtsprecherin Karina Austermann. „Das ist zu wenig“, kommentiert Kurzhals. Richtig ist, dass der Obdachlose nicht in den Teucheler Weg will. Er hat einfach Angst. Und die ist nicht ganz unbegründet. Hier passiere mehr „als in vergleichbaren Wohneinheiten“, so die Polizei.

Es gehe um Körperverletzung, Sachbeschädigung und Vandalismus. Im April 2017 wurde wegen versuchter Tötung ermittelt. Das Landgericht schickte den Angeklagten in die Psychiatrie.

Neue Chance für 48-Jährigen

Doch zurück zum 48-Jährigen. Der Mann ist zahlungskräftig, weil er ein Recht auf Hilfe hat. Ihm stehen monatlich nach MZ-Berechnungen für die Kaltmiete 283,50 Euro und ein Zuschuss für Fernwärme von 19,40 Euro zu. Er lebt nach eigenen Angaben seit zwölf Monaten auf der Straße.

Demnach hat der Landkreis, der für die Unterbringungskosten aufkommen muss, einem Menschen im Not 3.634,80 Euro vorenthalten. Dabei gilt auch für Behörden und für anonyme Facebook-Schreiber das Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Der Mann, der gegenüber seinen Helfern betont, er brauche dringend eine Wohnung, erhält unabhängig von seiner Vorgeschichte eine zweite Chance - dank seiner Unterstützer. (mz)

Das ist ein Nachtasyl für den kurzfristigen Notfall.
Das ist ein Nachtasyl für den kurzfristigen Notfall.
Klitzsch