Letztes Hab und Gut gestohlen Letztes Hab und Gut gestohlen: So löst ein Obdachloser Welle der Hilfsbereitschaft aus

Wittenberg - Es ist die Nacht, als sich Deutschland auf „Burglind“, auf das drohende Unwetter, vorbereitet. Auch Thomas Schaaf trifft seine Vorkehrungen. Das erschweren unbekannte Diebe, die das letzte Hab und Gut des 48-Jährigen entwenden. Dazu zählt auch seine wärmende Iso-Matte.
Der gelernte Gleisbauer hat aber Glück im Unglück: Seine Geschichte, die in den sozialen Medien verbreitet wird, löst größte Empörung über den unbekannten Täter - und eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Schaaf wird zum bekanntesten Obdachlosen in Wittenberg.
Freilich hat die Stadt auch ein Heim für solche Härtefälle. Dort will der Mann aber nicht hin. Er hat Angst, die stammt aber offensichtlich weniger aus eigenem Erleben als vielmehr vom Hörensagen.
Kinder spenden Süßes
Und er wird auch diese Nacht in der Einsamkeit meistern. Allerdings ist Schaaf irgendwie auch nicht allein. Unbekannte besuchen ihn, bringen Decken, mal einen heißen Kaffee oder Tee - und auch schon mal ein heißes Süppchen. Kinder spenden ihre letzten Süßigkeiten von Weihnachten. Manche kommen sogar öfter zum Helfen.
„Ich habe zwar wenig Zeit, zwei Jobs. Aber mir drohte mal das gleiche Schicksal“, erzählt ein Mann, der überzeugt ist, dass es praktisch jeden treffen könne. Er ist empört über jene, die in Facebook-Kommentaren behaupten, es müsse in Deutschland niemand auf der Straße leben. Das sei doch nur blanke Theorie, die Praxis, das wirkliche Leben, sehe ganz anders aus.
Auch er habe mal gedacht, dass bei ihm alles in geordneten Bahnen verlaufe - „bis meine Ex mich vor die Tür gesetzt hat. Danach musste ich richtig kämpfen“, erzählt er, „um die Straße abzuwenden.“ Ohne Wohnung keinen Job, ohne Arbeit aber auch keine Wohnung. Der Teufelskreis sei nur schwer zu zerschlagen.
Schicksal klaglos akzeptiert
Schaaf ist aber nicht so ein Kämpfer. Erst wird er in seinem Unternehmen nicht mehr gebraucht, dann kündigt sein Vermieter wegen Eigenbedarfs die Wohnung. „Ich war kein Mietschuldner“, sagt Schaaf, der sein Schicksal klaglos hinnimmt. Er verlässt seine Heimatstadt Coswig und glaubt, in Wittenberg werde er schnell - spätestens in einigen Tagen - eine neue Chance erhalten.
Seine Heimat wird eine Bushaltestelle am Park. Er setzt vor allem auf die Nähe zum Jobcenter.
Doch im Bermuda-Dreieck der Behörden - etwas mehr als 100 Meter entfernt sind Arbeitsamt, Kreis- und Stadtverwaltung - ist er zwar nicht verschwunden, aber offensichtlich unsichtbar.
Die Mächtigen müssen den Mann in Not schon oft auf dem Weg zur Arbeit gesehen haben. Das Bild eines Obdachlosen hat aber das soziale Gewissen nicht alarmiert. Niemand aus der höheren Verwaltungshierarchie hält an und fragt, ob er helfen könne.
Polizei und Stadtordnungsdienst lassen Schaaf in Ruhe
„Ich lebe schon seit über einem Jahr hier“, sagt der 48-Jährige, der allerdings auch vom Wegschauen profitiert. Der Stadtordnungsdienst oder die Polizei greifen nicht ein. „Ich habe keine Probleme“, sagt er. Das kann auch daran liegen, dass er für Ordnung und Sauberkeit um sein Domizil sorgt, Papier und Zigarettenkippen liest er jeden Tag auf. „Das sind nicht meine“, erzählt er.
Sein Tagesmittelpunkt ist die Suppenküche, die offiziell „Begegnungsstätte mit Mittagstisch“ heißt, aber schon am frühen Nachmittag um 13.45 Uhr schließt. Schaaf geht hier zur Toilette, wäscht sich und stärkt sich - für die nächste einsame Nacht. Seine wichtigsten Termine sind aber die beim Jobcenter. „Ich frage regelmäßig nach Arbeit und Wohnung“, berichtet er. Schaaf - das ist offensichtlich - braucht Unterstützung.
Der Landkreis kann auf Beschluss des Betreuungsgerichts einen amtlichen Helfer stellen. „Grundvoraussetzung ist aber, dass der Mann das auch will“, sagt die zuständige Richterin auf MZ-Anfrage. „Betreutes Wohnen“ - das ist eigentlich was ganz anderes - „kommt für mich in Frage“, erklärt Schaaf der MZ. Er wolle seine eigenen Entscheidungen treffen - notfalls auf der Straße.
Warten auf die eigenen vier Wände
Unerwartete Hilfe kommt schließlich vom größten Vermieter der Stadt. Schaaf darf sich vorstellen - Obdachlose sind nicht unbedingt die beliebtesten Kunden - und sich wie jeder andere Interessent um eine Wohnung bewerben. Die Mitarbeiterin ist freundlich, stellt aber auch kritische Fragen und gibt Unterstützung beim Ausfüllen der Formulare.
Schaaf ist überrascht, dass jemand nach seinen Wünschen fragt. Die Soforthilfe - eine Wohnung in Zahna - lehnt er aber ab.
„Ich kenne doch da niemand“, sagt er und entscheidet sich für die vier eigenen Wände in Stadtzentrumsnähe. Doch dafür muss er noch ein paar Tage warten - durchhalten in frostigen Nächten.
In Wittenberg ist im Moment nichts frei. „Warum sind Sie nicht sofort zu uns gekommen?“, fragt die Frau. Eine Antwort gibt es nicht. Er wolle jetzt nach vorn schauen, betont Schaaf. Es gibt noch einiges zu klären. Das Jobcenter signalisiert die Bereitschaft, für die Erstausstattung der Wohnung zu sorgen.
Jobangebot aus Wörlitz
Kurz nach diesen guten Nachrichten erhält der 48-Jährige via Facebook ein Komplettangebot. Die Wörlitzer Vizebürgermeisterin Erika Miertsch (CDU) lädt den Wahlwittenberger zum Vorstellungsgespräch ein. Es besteht die Chance auf eine Stelle als Hausmeister und auf eine möblierte Wohnung.
„Man muss doch helfen, und 48 Jahre ist doch kein Alter“, sagt die ehrenamtliche Kommunalpolitikerin, die für ihre Bereitschaft zum Helfen nicht zum ersten Mal anonym angefeindet wird.
Zum schnellen Happy End kommt es auch hier nicht. Schaaf hofft, dass jene, die ihn unterstützen ihm auch in das neue Leben helfen werden. Er setzt auf seine bisherigen sozialen Kontakte und ist davon überzeugt, dass es jetzt in ein paar Tagen mit den eigenen Wänden auch in Wittenberg vorwärts gehen wird.
Mit einer Wohnung werde es auch mit dem Job klappen. Immerhin gibt es derzeit offiziell im Landkreis 802 freie Stellen. Und dazu fördert die Agentur für Arbeit die Integration von Langzeitarbeitslosen. Die Rede ist vom so genannten Hamburger Modell. „Der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben beginnt mit drei Stunden am Tag, das wird wöchentlich gesteigert“, erklärt Uwe Prochnow von der Agentur für Arbeit in Dessau.
Harte Nächte auf der Bank
Mit guten Aussichten auf eine neue Chance legt sich Schaaf wie jede Nacht auf die Bank im Buswartehäuschen und trotzt Burglind. Das Unwetter ist harmloser als von den Meteorologen angekündigt. Trotzdem ist es nasskalt.
Der Mann friert unter den Decken. „Ich brauche eine Wohnung“, sagt er leise und muss erneut ein paar Stunden im Freien durchhalten - bis die Suppenküche wieder öffnet - um 8 Uhr. (mz)