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Das Gedächtnis der Bülziger

Von Irina Steinmann 17.12.2007, 17:38

Bülzig/MZ. - Er hatte das Bild sofort erkannt. Das kann nur Bülzig sein. Der Ziegeleiofen. Die Geleise. Und schließlich, letztes untrügliches Kennzeichen auf diesem Triptychon der Arbeit, die Kirche im Hintergrund. Er musste das Bild haben. Ein bisschen geblufft (150 Euro? Niemals!), dann war er sich mit dem Trödler einig und konnte seinen Spitzmann nach Hause tragen. Hans Spitzmann, so hieß der Maler, der es hernach in Quedlinburg zu einigem Ruhm bringen sollte. Zuerst aber, hat Wolfgang Habedank herausgefunden, war er in Bülzig gewesen, ein Junglehrer im Kaiserreich, 1907 bis 1909.

Historiker aus LeidenschaftDie Episode um Spitzmann aus dem Trödlerladen verdeutlicht sehr schön die Wesenszüge des Heimatforschens. Es ist die permanente Jagd nach dem fehlenden Steinchen im Mosaik. Und vielfach kein ganz billiges Hobby, wie Wolfgang Habedank einräumt, der in einem Berliner Auktionshaus für eine historische Postkarte schon mal 100 Euro hinlegt. Vorausgesetzt, sie zeigt den Zeppelin. Denn mit dem Zeppelin fing alles an damals Anfang der 1990er, als sie im Gemeinderat einen Ortschronisten suchten. Seit 1991 ist der heute 57-Jährige offizieller Chronist von Bülzig und damit auch vom Alter her einer der jüngeren seiner Zunft.

Wolfgang Habedank sitzt im sonnigen Arbeitszimmer seines Elternhauses (Baujahr 1904) und wägt den alten Zankapfel "Bülzig oder Abtsdorf" genüsslich im Kopf. An der Wand hängt, hinter Glas, eine Repro des Zeppelins, der im August 1909 wegen eines technischen Defekts zu einer Notlandung "in Bülzig" gezwungen wurde, dort, wo heute die L 126 verläuft. "Sehen Sie", sagt Habedank und weist über eine vergilbte Brachfläche, "Abtsdorf gab's noch gar nicht." Es ist nun aber keineswegs so, dass er sich in diese Zeppelin-Sache verbissen hätte. Wenn man mit ihm spricht, gewinnt man vielmehr den Eindruck, dass es Tausende andere Dinge gibt, die ihn interessieren.

Dazu passt gut, dass der Heimatfreund Habedank sein Revier über die Bülziger Chronistenpflicht hinaus recht weit gesteckt hat. Der Fläming mit der Stadt Zahna gehört dazu, die diesseitige Elbaue, Mühlanger, Zörnigall, Gallin, und sogar die Lutherstadt. "Wussten Sie, dass es in Zahna mal 27 Gaststätten gab?" 27, du lieber Himmel! Habedank kennt auch alle historischen Kinos von Wittenberg, er sammelt alles über "Kapellen", weil er selbst mal in einer Band gespielt hat (Gitarre und Gesang bei "Concordia"), und er beansprucht für sich, herausgefunden zu haben, dass die Zahnaer Rassehundezucht (die der Stadt bekanntlich den lustigen Namen "Hundezahna" eintrug) vorübergehend in Wittenberg angesiedelt und deren Chef-Villa das heutige "Haus des Handwerks" war. Wer weiß im Übrigen, dass in der Lutherstadt 1911 an einer Flugmaschine gebaut wurde? Na, wer?

Der Bülziger hat seine Recherchen hierzu und zu diversen anderen Wittenberger Themen dem Stadtarchiv zur Verfügung gestellt. Er findet überhaupt, Chronisten betrieben zu viel Geheimniskrämerei untereinander. Ein wenig Vernetzung wäre doch nur gut für alle! Wer Wolfgang Habedank besucht, droht vom Mahlstrom der Regionalgeschichte verschlungen zu werden. Der Chronist selbst, seit 30 Jahren Elektriker und Schlosser in der Likörfabrik Zahna, wappnet sich dagegen mit konsequentem Computereinsatz; nichts geht über ein gutes Schlagwortverzeichnis. Stilistisch mag er es knapp, auch das hilft Ordnung zu halten, im Kopf und auf dem Papier.

Vielfältig sind Habedank zufolge die Verbindungen zwischen Wittenberg und Bülzig, und man muss da gar nicht mal Kuriositäten wie den Besuch "Fresskahles" im Bülziger Pflaumengarten herbeiziehen. Der Wittenberger Vielfraß, so geht die Saga, verschlang dort einen Eimer Pflaumen - samt Steinen und Eimer, versteht sich. Als es den Tuchmachern im 19. Jahrhundert in der Festungsstadt zu enge wurde, zogen sie hinaus nach Bülzig. Ihr stolzes Industriegebäude konnte man schon mal mit einem Schloss verwechseln. Davon kündet, bis heute, die "Schloss-Straße". Ein Industrieort war Bülzig, durch seine Töpfereien und Ziegeleien, aber lange vor der Ankunft der Textilfabrikanten - und lange danach.

Das 19. Jahrhundert und der Alltag der "einfachen Leute" sind die Themen, die Habedank besonders interessieren, mit Luther und Melanchthon mögen sich andere befassen. Viel, sagt er, habe ihm auch noch seine Mutter erzählen können, eine Magd und Fabrikarbeiterin, der er im Übrigen die Erkenntnis verdankt, dass die Menschen "früher ruhiger gelebt haben". Ja, das Leben ist unruhig geworden, aber Habedank hält es fest.

Die aktuellen Einträge in der Chronik von Bülzig betreffen die Arbeiten an der Landstraße - und ein Thema, aus dem eine ganz große Versöhnungsgeschichte werden könnte: Der Brite Alex Franks hat wissen lassen, dass er gerne nach Bülzig kommen würde, wo er im Krieg in Gefangenschaft war und Freundschaft schloss. Das Lager befand sich an der Lindenstraße und kannte zwei Klassen: Russen, erzählt Habedank, wurden hinter Stacheldraht gehalten, Briten bekamen durchaus Freigang. Der Chronist hat für alle Fälle schon mal den Bürgermeister informiert über eine mögliche Visite von der Insel.