Kurz nach Ende Zweiter Weltkrieg „Weihnachten fällt nicht aus“: Erinnerungen an Heiligabend 1945 in Merseburg
Im Dezember 1945 war der Zweite Weltkrieg erst ein halbes Jahr vorbei. Weite Teile der Merseburger Altstadt lagen noch in Trümmern. Doch kleine Glücksmomente verankerten den Heiligabend in der Erinnerung zweier Kinder. Sie berichten.

Merseburg/MZ. - „Es war eisig kalt. Wir, das waren meine Mutter, mein Vater (welch Glück!), mein Bruder (8 J.) und ich (7 J.), gingen die Domstraße, in der wir wohnten, hoch durch das krumme Tor zum Dom. Mit uns strömten viele Menschen, alle hatten das gleiche Ziel in der Dunkelheit. Der Dom war bereits sehr voll.“ So hat die Merseburgerin Edith Stolp vor vielen Jahren ihre Erinnerungen an Weihnachten 1945 festgehalten. Das erste Weihnachten nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Winter davor waren noch Bomben auf die Stadt gefallen, hatten Menschen in den Tod gerissen, schwere Schäden in den Straßen hinterlassen.
Die waren natürlich Weihnachten 1945 noch vorhanden, berichtet Stolp heute. „Es gab damals fast nichts. Ich sage immer, unsere Mütter mussten alle kriminell werden. Es wurden Kohlen geklaut, es wurde stoppeln gegangen.“ Aber Weihnachten, das fiel auch im Jahr der Stunde null nicht aus. Auch wenn ein kleiner Junge damals anderes befürchtete. Stolp ist über Umwege an die schriftlichen Erinnerungen des damals etwa Sechsjährigen gekommen, der mit seinem Zwillingsbruder und der Mutter – der Verbleib des Vaters war unbekannt – an Heiligabend denselben Gottesdienst im Dom besuchte.
Der Pfarrer nimmt die Angst
Im Ohr, schildert er in dem Schriftstück, hatte er dabei den Satz seiner Mutter: „Weihnachten fällt aus. Christbäume gibt es sowieso nicht.“ Die wiederholte Frage seines Bruders nach Geschenken, hatte sie mit: „Habt ihr doch an den Füßen beantwortet.“ Im alten Schuhgeschäft, so erinnerte sich der damalige Junge, sei eine Tauschbörse entstanden, dort habe man zwei ältere Paar Kinderschuhe gegen ein neues größeres tauschen können.
Mit denen an den Füßen gingen die Jungen in den Dom. Von der Predigt habe er wenig verstanden, erinnerte sich der Zeitzeuge in seinen Aufzeichnungen, auch weil der Wind gegen die hohen Fenster drückte. Nur ein Satz des Geistlichen blieb ihm fest in Erinnerung: „Weihnachten fällt nicht aus, fällt niemals aus.“ Später habe ihn dann aufhorchen lassen, dass der Pfarrer von Weihnachtsbäumen sprach. „Irgendwas sei von Schweden gekommen. Und als dann die Kirchentür sich wieder öffnete und wir fast als erste wieder ins Freie traten, da sahen wir einen geöffneten Verschlag neben der Domtür, da wurden auf einmal Christbäume abgeladen“, heißt es in den Aufzeichnungen.
Ein Baum für Zuhause
Den Baum hätten sie dann ins Kinderzimmer gestellt, das als einziges in der Wohnung geheizt werden konnte, und geschmückt. Schließlich habe auch die Mutter Weihnachtslieder gesummt.

Edith Stolp hat von der Weihnachtsbaumverteilung am Ende des Gottesdienstes nichts mitbekommen. Sie hätten damals ohnehin schon einen Baum gehabt. Die damals Siebenjährige plagten Ohrenschmerzen, die die Kälte im Dom noch verschlimmerte: „Ich bekam von dem Gottesdienst nichts mit, weder Musik noch Worte eines Pfarrers, weinte nur still vor mich hin.“ Schon vor Ende des Gottesdienstes seien sie deshalb aufgebrochen. Zu Hause habe ihr die Mutter dann warmes Öl ins Ohr getropft. Das habe geholfen.
Ihr Vater bereitete unterdessen im Wohnzimmer die Bescherung vor: „Für mich und meinen Bruder gab es ein kleines Männlein mit zwei Beinen aus Holz, das auf einer schrägen Bahn herunterlief. Das sah so lustig aus, dass alle herzhaft gelacht haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dann noch Ohrenschmerzen hatte.“ Wie sie später herausfand, hatte ein Kollege ihres Vaters, das Holzmännchen gebaut. „Es hat einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, dass ich es bis heute nicht vergaß.“
Hilfe aus Schweden
Auch wenn sie die Weihnachtsbaumverteilung nicht selbst miterlebte, weiß auch Stolp aus dieser Zeit von schwedischen Gaben zu berichten. So sei etwa bei der Schulspeisung an der König-Heinrich-Schule, der heutigen Goethe-Schule, die die Siebenjährige damals besuchte, teils erzählt worden: Das Essen komme aus Schweden. „Und einmal wurden im Kreuzgang in einem Raum auf der Südseite Salzheringe aus großen Fässern verteilt, so viel ich weiß, auch aus Schweden.“ Und an noch eine Sache kann sich Stolp aus der Weihnachtszeit 1945 erinnern. Sie habe danach nie wieder so viele Menschen im Dom gesehen wie an Heiligabend vor 80 Jahren.