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Raguhn Raguhn: Eine Nacht in den Fluten

Von detmar oppenkowski 20.08.2012, 17:17

Raguhn/MZ. - Doch Kammler und seine Familie sind nicht die einzigen, die in dieser Nacht in Raguhn "absaufen". In der Alt- und Neustadt sowie in Raguhn-Ost samt Kleckewitz sind etwa 3 000 Menschen direkt betroffen. Alle von ihnen können erzählen, wie es vor und nach dem Hochwasser hier ausgesehen hat. Aber nur wenige haben den Zeitpunkt als das Wasser kam unmittelbar in ihren Häusern miterlebt. Zu ihnen gehören Gerhard Höhlig (71) und Michael Heßler (46). Beide wohnen - so wie Ulrich Kammler - in der Wittenberger Straße, also auf der rechten Seite der Mulde.

"Auch hier war klar, dass evakuiert werden muss", so die Leiterin des heutigen Ordnungsamtes von Raguhn-Jeßnitz, Birgit Nachtwey. Bis 15.30 Uhr stehen die dafür vorgesehenen Busse in der Wittenberg Straße bereit, dann heißt es Abfahrt. Einige Minuten später kommt auch schon die Warnung: "Die Deiche sind nicht mehr zu halten." Also wird es auch für Kammler, Höhlig und Heßler höchste Zeit, die Siedlung samt Familie mit den eigenen Autos zu verlassen. Doch viele unvorhersehbare Ereignisse trennen die drei Nachbarn.

Während Heßler mit seiner Mutter kurz entschlossen umkehrt, um die Kellerfenster zu verbarrikadieren, wollen Kammler und Höhlig in Richtung Möhlau fahren. Doch das Wasser ist schneller. Während Kammler eines von zwei Autos zurücklassen muss, es aber mit Frau und Schwiegermutter gerade noch so aus dem "Wasser-Inferno" schafft, bleibt Höhligs Auto in den Fluten stecken. "Ich bin dann umgekehrt - zu Fuß." Zur selben Zeit hat Michael Heßler seine Fenster bereits abgedichtet und will noch kurz im Keller nachschauen. "Doch als ich die Treppe herunterlief, sah ich, wie die Wassermassen quadratisch durchs Fenster schossen." Damit ist an eine Flucht nicht mehr zu denken. Und er muss ebenso wie Höhlig - zuerst vom Erdgeschoss, später von der ersten Etage aus - machtlos mit ansehen, wie das Wasser steigt, steigt und steigt.

Denn trotz der Hochwasserereignisse vom August 1897, Juli 1954, Dezember 1974 und Januar 1988 konnte sich niemand in Raguhn das nun folgende Szenario ausmalen. Eigentlich macht der Hauptarm der Mulde vor Raguhn-Ost einen Knick nach links. Doch durch die gewaltigen Wassermassen bricht der "Deich am Seegarten" direkt in der Biegung und auf einer Länge von etwa 100 Metern. Damit verlässt die Mulde ihr Flussbett und wird nicht mehr an Raguhn-Ost samt Kleckewitz vorbeigeführt, sondern direkt in die Siedlung hinein.

"Durch die Häuser - also die Einfahrten - schossen reißende Flüsse", so Heßler. Gehwegplatten - jede mindestens zehn Kilogramm schwer - werden herausgerissen. Der Strom ist so stark, dass seine Zufahrt 3,20 Meter tief ausgespült wird und die klaffende Wunde später mit 40 Tonnen Kies und 23 Tonnen Splitt geschlossen werden muss. Doch damit nicht genug. Nachdem Straßen, Häuser und Gärten überflutet sind, fließt das Wasser auf ein dahinterliegendes Feld und staut sich - etwa einen Kilometer weiter - am Retzauer Deich auf. "Wir liegen in einer Senke, sind also der tiefste Punkt in Raguhn", so Höhlig. "Weil das Wasser nicht abfliesen konnte, waren wir in einer riesigen Badewanne gefangen." Und die füllt sich schnell.

Irgendwann fällt mit dem Strom das Telefon aus. Mittlerweile ist es draußen dunkel und Heßler beobachtet mit einer Taschenlampe, wie das Wasser weiter steigt und sein Hab und Gut aus dem Erdgeschoss herausschleudert. "Und auch das Rauschen kam näher und näher", erinnert er sich. Bevor das Wasser aber das Schlafzimmer erreicht, bleibt es an der letzten Treppenstufe stehen. "Da war es 23.14 Uhr", so Heßler.

Kurz vorher muss der Retzauer Deich gebrochen sein, so dass die "Badewanne" ablaufen kann. Dass, was nun in den nächsten Tagen sichtbar wird, übertrifft die schlimmsten Erwartungen. Unterspülte Straßen, zerstörte Wohnungen, zusammengestürzte Geräteschuppen. Nur Ulrich Kammlers Kommentar in seinem Flutalbum gibt einen annähernden Eindruck von den Tagen nach der Jahrhundertflut: "Chaos, Schlamm, Verzweiflung."