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Nachruf Nachruf: Schriftstellerin Ilse Aichinger mit 95 Jahren gestorben

11.11.2016, 16:02
Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger
Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger dpa

Berlin - „Ein Haifisch schwamm neben ihnen her. Er hatte sich das Recht ausgebeten, sie vor den Menschen beschützen zu dürfen.“ Es war eine verkehrte Welt, die die junge Ilse Aichinger da beschrieb. Tatsächlich: Einen konventionellen Sinn ergibt die zitierte Stelle nur unter dieser Bedingung: Menschen sind schlimmer, blutrünstiger als Haie. Und in der Welt, wie sie sich in dem 1948 verfassten Roman „Die größere Hoffnung“ präsentiert, waren sie das allerdings.

Das Buch ist die Geschichte einer jungen „Halbjüdin“, die nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlers Deutschland 1938 die entfesselte antisemitische Gewalt in Wien zu spüren bekommt. Die Literarisierung dieses Stoffes entbehrt freilich der erwarteten realistischen Zurichtung: Aichinger schreibt vielmehr in einer Sprache, die sich dem Grauen eher zu verschließen denn zu öffnen scheint: streng perspektivisch, unter Aufgabe der  üblichen Raum- und Zeitkategorien, in allegorischen Traum- und Alptraumgesichtern, grundiert von Vernichtungsmythen und, gleichzeitig, messianischer Hoffnung.

Mitglied der Gruppe 47

Was zunächst nicht abzusehen war, geschah: Der Roman, thematisch verwandt mit Büchern von Judith Kerr („Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“) und Hanna Demetz („Ein Haus in Böhmen“), wurde ein Erfolg, der sich in den 50er Jahren noch steigerte, Aichinger zur Fischer-Autorin machte und ihr 1951 eine Einladung zur Gruppe 47 einbrachte. 1952 gewann sie dort den Gruppenpreis mit ihrer „Spiegelgeschichte“, die eine Biografie rückwärts, zur Geburt hin erzählt. Wie auch immer: Aichinger, die mit „Das vierte Tor“ 1945 den ersten Text der österreichischen Literatur über die Welt der KZs geschrieben hatte, traf mit ihrer völlig unverbrauchten Sprache den richtigen und auch so weithin empfundenen Ton für eine „Sache“, vor der belletristische Üblichkeit versagen musste.

Aichinger überlebte den Holocaust

Gespeist wurde all dies aus unmittelbarer eigener Erfahrung. Aichinger, 1921 als Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien geboren, überlebte mit der Mutter den Holocaust, indem sie diese in einem Zimmer direkt gegenüber dem Wiener Gestapo-Hauptquartier versteckte. Ein großer Teil der Familie kam in einem Vernichtungslager um.

Der „Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien“ und die bei der Deportation vergnügt zuschauende Bevölkerung – diese Erinnerung sollte Aichinger ihr Lebtag nicht mehr verlassen. Sie stiftete jenes grundsätzliche Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit, das seine Kurzformel in dem Satz „Die Welt verlangt danach, gekontert zu werden“ fand. Und in einer „Poetik des Schweigens“, die die Wörter zunächst in kargste Verknappung und dann gleichsam ins Nichts führte. Tatsächlich: Nachdem Aichinger zunächst in relativ dichter Folge Prosa, Lyrik und Hörspiele (das bekannteste, „Knöpfe“,  handelt von abtötender weiblicher Fabrikarbeit) veröffentlicht hatte, verstummte sie  mehr oder weniger – und erst recht nach dem Tod ihres Ehemanns Günter Eich 1972, den sie 1953 geheiratet und mit dem sie zwei Kinder hatte.

Erst 2000 tauchte die vielfach Geehrte und Ausgezeichnete  als Literatin wieder auf – mit Feuilletons im Wiener „Standard“, die den bezeichnenden Titel „Journal des Verschwindens“ trugen. Am gestrigen Freitag ist Ilse Aichinger 95-jährig in Wien gestorben.