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Reaktion Reaktion: Menschen am Bodensee danken ihrem Schutzengel

Von Gisela Mackensen 07.07.2002, 12:37

Überlingen/dpa. - Damit sind persönliches Hab und Gut sowie Gepäckstücke der 71Menschen an Bord der zwei Unglücksmaschinen gemeint. In der Halleliegen in beklemmender Ordnung mehrere 100 Funde, die von weit herzusammengetragen wurden. In durchsichtigen Plastiksäcken reihen sichTurnschuhe, Badeanzüge, ein Portemonnaie, Reiselektüre oder ein GlasMarmelade aneinander. Auch die marineblaue, mit Goldlitze besetzteMütze des Flugkapitäns der russischen Passagiermaschine liegt auf demBoden.

Wie durch ein Wunder sind die Menschen, die in der kilometerlangenAbsturzschneise am Ufer des Bodensees leben, unversehrt geblieben.Doch sie müssen mit den Bildern des Grauens fertig werden, die nachden ersten Tagen der Betriebsamkeit, die den Opfern, derenHinterbliebenen und den Einsatzkräften galt, immer stärker insBewusstsein drängen. «So langsam begreifen wir die Tragweite diesesUnglücks», sagte Owingens Bürgermeister Günther Former amSamstagabend bei einem Gedenkgottesdienst in der Pfarrkirche St.Peter und Paul.

Pfarrer Reinhard Schacht sprach von der Dankbarkeit dafür, «dasswir hier unten am Boden heilgeblieben sind», von dem schwerenSchicksalsschlag für die Familien der Opfer. Dann verliest er einGedicht eines 14-jährigen russischen Mädchens, «das am Himmel unsererHeimat ums Leben kam». Wenige Tage vor der Reise schrieb das Kind insTagebuch: «Ich fiel von der Mondsichel, von deren schmalstem Zipfel,und dann flog ich furchtbar lang und erreichte den Himmel». Dakonnten auch hart gesottene Feuerwehrleute in dem völlig überfülltenGotteshaus ihre Rührung kaum noch verbergen.

«Das, was wirklich geschehen ist, begreifen wir vielleicht nochgar nicht», sagte Herbert Dreiseitl. Noch vor wenigen Tagen hätten«Sonne, Wärme, Baden, Ausgelassenheit» das Bild am Bodensee bestimmt.Und er fragt: «Was bedeutet das Unglück für unser Weiterleben?».Dreiseitl war in der Unglücksnacht mit dem Fahrrad von Überlingennach Owingen unterwegs und damit in allergrößter Gefahr.

In bewegenden Worten schildert er den Gottesdienstbesuchern, wasviele in der Gegend ähnlich erlebt haben. Nach Zischen und Pfeifen,Krachen und Dröhnen am gelb-roten Himmel seien sehr langsam Tote undFlugzeugteile aus den Wolken getropft. «Ein Teil kam direkt auf michzu», erzählte er. Dort, bei einem Sägewerk am Ortsrand von Owingen,wo Dutzende von Toten gefunden wurden, liegen Sträuße aus Sonnen- undFeldblumen, brennen unzählige Kerzen.

Die Direktorin der Netzwerk Psychologie AG, Angelika Schroth, istüberzeugt: «Da muss ein ganzes Bataillon von Schutzengeln gewachthaben». Ihr Team hat schon die Familien der Opfer und dieEinsatzkräfte seelisch betreut und bietet nun psychologischenBeistand für die Bevölkerung an.

Die hat über der eigenen Fassungslosigkeit und Verstörtheit dievielen Toten, in der Mehrzahl Kinder, nicht vergessen. In einem Jahrsoll es am Bodensee ein Treffen mit den russischen Hinterbliebenengeben. In Überlingen wird zusammen mit der russischen Regierung eineGedenkstätte entstehen, die an die Tragödie erinnert.