80 Jahre Kriegsende Luftangriffe und Demontagen: Warum Sachsen-Anhalts Wirtschaft einen schweren Start hatte
Aufgrund der Waffen- und Treibstoffproduktion wurden einige Städte in Sachsen-Anhalt im Zweiten Weltkrieg immens zerstört. Noch schwerer traf die Industrie jedoch die sowjetische Reparationsstrategie.

Halle/MZ. - Vor allem am Ende des Zweiten Weltkrieges in den Jahren 1944 und 1945 gab es im heutigen Sachsen-Anhalt durch alliierte Luftangriffe schwere Kriegsschäden in Städten wie Magdeburg, Dessau, Halberstadt und Merseburg. Ziel der Angriffe waren vor allem Rüstungsbetriebe. Nach dem Krieg wurden dann viele Industrieanlagen systematisch im Auftrag der Sowjetunion demontiert. Die Reparationszahlungen seien eine schwere Hypothek für den Neustart der DDR-Wirtschaft gewesen, sagt der Berliner Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch. MZ-Wirtschaftsredakteur Steffen Höhne sprach mit ihm über die Höhe der Kriegsschäden in der Industrie, die Demontage von Anlagen und warum es dennoch gelang, die industriellen Kerne zu erhalten und neu aufzubauen.
Wie stark war Sachsen-Anhalt bei Kriegsende zerstört?
Rainer Karlsch: Die Zerstörungsrate in Sachsen-Anhalt war sehr unterschiedlich. Die großen Städte, Magdeburg und Halle, wiesen erhebliche Kriegsschäden auf. Die mittelgroßen Städte, vor allem Dessau und Halberstadt, wurden in der letzten Kriegsphase schwer bombardiert und boten ein Bild nahezu vollständiger Zerstörung.
Warum fanden die Luftangriffe erst zu diesem späten Zeitpunkt statt?
Die Luftkriegsstrategie der Alliierten konzentrierte sich zunächst einmal auf den Westen Deutschlands, vor allem das dicht besiedelte Ruhrgebiet und die Hafenstädte Hamburg und Kiel, weil diese Regionen und Städte für die Bomberverbände einfacher zu erreichen waren. Briten und Amerikaner haben die Strategie des „Moral Bombing“ verfolgt. Das heißt, sie wollten deutsche Städte ausbrennen, das Durchhaltevermögen der Bevölkerung brechen. Diese Strategie ist nicht aufgegangen. Erst ab Mai 1944 haben sich die Alliierten dann in starkem Maße auf industrielle Ziele konzentriert, insbesondere auf die Hydrieranlagen, die Treibstoff herstellten.
Warum diese?
Die Treibstoffversorgung war die Achillesferse der deutschen Kriegswirtschaft. Das war der entscheidende Grund dafür, dass vor allem das Leuna-Werk, die Hydrierwerke in Böhlen und Magdeburg und das Mineralölwerk in Lützkendorf massiv bombardiert wurden. In Leuna wurde damals aus Braunkohle Treibstoff gewonnen. Für die Luftwaffe war der Flugtreibstoff aus Leuna unverzichtbar. Der Bau des riesigen Werks war ja bereits 1916/17 in Angriff genommen worden, um Düngemittel und Salpetersäure für die Sprengstoffproduktion herzustellen. Im Zuge der nationalsozialistischen Aufrüstungs- und Kriegswirtschaft wurde das Leuna-Werk dann weiter ausgebaut. Ähnlich wie in Berlin gab es dort Flakfestungen. Die Alliierten verloren allein bei den Luftangriffen auf das Leuna-Werk 123 Bomber.

Wie groß war die Kriegsindustrie in Sachsen-Anhalt?
Ab dem Jahr 1936 hat das NS-Regime systematisch eine Kriegswirtschaft aufgebaut. Es gab Hitlers Vierjahresplan, der festlegte, dass das Deutsche Reich in vier Jahren kriegsfähig werden sollte. Im heutigen Sachsen-Anhalt – damals preußische Provinz Sachsen und Land Anhalt – wurde nicht nur die Treibstoffindustrie ausgebaut, in Dessau waren es die Flugzeugwerke, in Aken die Aluminiumwerke, in und um Magdeburg Munitionswerke sowie Panzer- und Geschützfertigung. Die Region wurde seit Mitte der 1930er Jahre zu einer regelrechten Rüstungsprovinz entwickelt.
Wie stark waren die Chemieanlagen nach dem Krieg zerstört?
Obwohl Leuna massiven Flakschutz hatte, war es das am schwersten zerstörte Chemiewerk im gesamten ehemaligen Deutschen Reich. Die Schäden waren höher als bei den Chemieanlagen im Ruhrgebiet oder in Ludwigshafen. Im Gegensatz dazu blieb das nur wenige Kilometer entfernt liegende Synthesekautschukwerk in Schkopau nahezu unzerstört. Auch die Agfa Filmfabrik in Wolfen war weitgehend intakt. Nur geringe Schäden hatten die Werke der Kaliindustrie erlitten.
Wie ging es nach dem Krieg mit den Industrieanlagen weiter, wie schnell wurden diese wieder angefahren?
Noch schwerer als die Zerstörungen durch den Luftkrieg wirkten die sowjetischen Demontagen. Das traf dann auch die unzerstörten Werke wie in Bitterfeld oder Wolfen. Vor allem die Kapazitäten der großen Werke, die rüstungsrelevant waren, wurden stark reduziert. Die Sowjetunion nutzte die Demontagegüter hauptsächlich für ihre Rüstungsindustrie, aber auch zivile Branchen, wie zum Beispiel die Filmindustrie, profitierten davon. Während 1945 noch sehr unsystematisch demontiert wurde, änderte sich das 1946.

Wie sah das konkret aus? Können Sie ein Beispiel nennen?
70 Prozent der Endstufe der Kautschuk-Produktion im Buna-Werk wurden abgebaut. Für diese Arbeiten waren zwischenzeitlich 500 bis 1.000 Mitarbeiter abgeordnet. Diese mussten die Anlagen auch teilweise in der UdSSR wieder aufbauen und dort die Forschung vorantreiben. Die Anlagen aus Buna wurden in Woronesch wieder aufgebaut. Fast die gesamte sowjetische Gummi-Produktion konzentriert sich auf Woronesch.
Wann endeten die Demontagen?
Bereits im Sommer 1946 kam es zu einer überraschenden Wende. Totaldemontagen fanden seitdem kaum noch statt. Die Besatzer gingen dazu über, „industrielle Kerne“ zu belassen.
Was war der Grund für die Änderung?
Die sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) sah, dass ihre Zone unregierbar würde, wenn noch mehr Industrie verloren geht. Daher wurden einzelne Betriebe, wie etwa die Buna-Werke in Schkopau oder die Filmfabrik in Wolfen in sowjetisches Eigentum überführt. Die sogenannten SAG-Betriebe mussten einen Teil ihrer Produkte als Reparationsleistungen in die Sowjetunion und Polen liefern, konnten aber wieder auf- und ausgebaut werden.

Wie viel von den Chemiekapazitäten waren nach Krieg und Demontage noch da?
Das war sehr unterschiedlich: In Schkopau waren noch ungefähr Dreiviertel der Kapazitäten vorhanden, in Bitterfeld ungefähr die Hälfte und bei den Leuna-Werken nur noch ein Viertel.
Waren die Demontagen, auch im Vergleich mit Westdeutschland, ein großes Hindernis für den Neustart?
Ja, natürlich. Ich mache das an zwei Zahlen fest. Im sowjetischen Besatzungsgebiet sind ungefähr dreieinhalbtausend Betriebe und Einzelobjekte abgebaut worden, in den drei Westzonen zusammengerechnet 665 Betriebe. Hinzu kamen die Demontagen von rund 6.200 Gleiskilometern, hauptsächlich das „zweite Gleis“, elektrische Oberleitungen und die Abgabe von Lokomotiven und Waggons der Deutschen Reichsbahn an die Sowjetunion. Die Folgen der Demontagen im Transportwesen waren noch Jahrzehnte später spürbar. Erst 1966 erreichte die Deutsche Reichsbahn wieder ihre Betriebsleistung von 1936.
Wie schnell gelang es der DDR, das Produktionsniveau wieder zu erreichen?
Wichtig ist, welchen Ausgangswert man nimmt. Zwischen 1936 und 1944 ist die Wirtschaft kriegsbedingt stark gewachsen. Nehmen wir 1936 als Ausgangspunkt, dann lässt sich abschätzen, dass von der Industrie in der DDR je nach Branche dieses Niveau zwischen Anfang und Mitte der 1950er Jahre wieder erreicht wurde.
Schaut man sich die Bilder des zerstörten Deutschlands an, dann ist es erstaunlich, wie schnell der Neuaufbau gelang.
Das stimmt. Die mitteldeutsche Region gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den am höchsten entwickelten Industrieregionen der Welt. Die Ingenieure und Facharbeiter konnten nach dem Krieg auf Technologien zurückgreifen, die es bereits gab. Es musste wenig neu entwickelt werden, sondern man hat rekonstruiert. Aus den an die Sowjetunion und Polen abgetretenen Ostgebieten kamen viele Flüchtlinge, die sich ein neues Leben aufbauen mussten. Es gab eine unglaubliche Arbeitsmoral, um das Land wieder aufzubauen. Zudem „hungerten“ die Menschen in ganz Europa nach Waren. Das war ein wichtiger Faktor, warum die Exportnation Westdeutschland entstehen konnte. Auch die DDR exportierte viel. Die DDR-Wirtschaft besaß mit der Sowjetunion einen riesigen Absatzmarkt. Man denke an den Magdeburger Schwermaschinenbau, den Waggonbau in Halle-Ammendorf und Dessau, die mitteldeutsche Chemie oder die Spielwaren- und Kosmetikindustrie. Nach der Einführung der D-Mark im Sommer 1990 ging dieser Markt zu großen Teilen verloren, was nicht kurzfristig zu kompensieren war.
Auch aktuell ist in Deutschland wieder von Aufrüstung die Rede. Ist es eine gute Idee, etwa aus einem Automobilzulieferer ein Rüstungsunternehmen zu machen?
Wenn man es aus einer historischen Perspektive sieht, dann muss man klar sagen: Das kann nur eine Übergangslösung sein. Natürlich kann durch die Rüstungsproduktion die Konjunktur belebt werden und Menschen haben Arbeit. Aber was passiert mit den Waffen? Wenn man keinen Krieg führt – und ich hoffe sehr, Deutschland muss keinen Krieg mehr führen – dann ist es totes Kapital.
* Der Historiker Rainer Karlsch ist einer der besten Kenner der DDR-Wirtschaftsgeschichte. Karlsch, geboren 1957 in Stendal, Studium der Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, war zuletzt wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Für sein Buch „Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-53“ erhielt er 1996 den Ersten Preis der Stinnes-Stiftung für Unternehmensgeschichte. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Das Chemiedreieck bleibt! Die Privatisierung der ostdeutschen Chemie- und Mineralölindustrie in den 1990er-Jahren“ im Aufbau-Verlag.