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Freiwillig im Krieg Warum eine Wittenbergerin in der Ukraine kämpft

Von Steffen Könau 07.05.2016, 19:53
Margarita Seidler wuchs in Wittenberg auf, fand zum orthodoxen Glauben und kämpfte in der Ostukraine.
Margarita Seidler wuchs in Wittenberg auf, fand zum orthodoxen Glauben und kämpfte in der Ostukraine. TASS

Halle (Saale) - Nein, Angst habe sie nicht, erklärt Margarita Seidler. Sie wisse auch gar nicht, ob in Deutschland nach ihr gefahndet werde, ob es einen Haftbefehl gebe, was ihr drohen könne, käme sie zurück in die Heimat, die ihr so fremd geworden ist. „Möglich, dass ich für meine Tätigkeit in Neurussland verfolgt werde“, glaubt sie, „aber ich würde wieder genauso handeln.“

Worte, die schwer wiegen, die Margarita Seidler aber voller Überzeugung sagt. Als der Bürgerkrieg in der Ukraine vor zwei Jahren beginnt, muss die gelernte Krankenschwester, die ursprünglich aus Wittenberg stammt, nicht lange überlegen. Seidler, 44, langes, leicht lockiges Haar, gehört zu den ersten Freiwilligen aus dem Ausland, die auf Seiten der sogenannten Separatisten zu den Waffen greifen. Ein Freund von ihr sei unter den ursprünglich nur 60 Frauen und Männern gewesen, die unter dem Kommando des späteren separatistischen Armeechefs Igor Strelkow versuchten, die Stadt Slawjansk gegen Einheiten der ukrainischen Armee zu halten. Als er bei Gefechten erschossen wird, sagt Margarita Seidler, „konnte ich nicht mehr ruhig sitzenbleiben - ich habe mich entschlossen, mein Leben nicht zu schonen“.

Von der FDJ zu den Rebellen

Es ist der letzte Schritt auf einem langen Weg, auf dem sich die 44-Jährige nicht nur räumlich immer weiter von dem entfernt hat, was sie einst war, als sie noch in Wittenberg lebte und Peggy hieß, ein ganz normales Mädchen in der DDR. „Ich war Mitglied bei den Pionieren und in der FDJ“, erinnert sie sich. Doch im Unterschied zu anderen wird Peggy Seidler das Gefühl nicht los, „dass man uns von hinten bis vorn belügt“.

In der Schule wird nur über den Kommunismus gesprochen. Aber kann der wirklich alles sein? Irgendwo in dem Mädchen aus dem Wittenberger Neubauviertel ist da von frühester Kindheit an das „Gefühl, dass Gott existiert“. Sie habe sogar einige Male zu ihm gebetet, ohne zu wissen, ob sie das richtig mache. „Von meinen Eltern erhielt ich keinerlei religiöse Erziehung, obwohl meine Mutter immer bekräftigte, dass sie evangelisch ist.“

Der Seele fehlte etwas

In die Kirche geht sie trotzdem nie. Tochter Peggy, „ungetauft und weit weg von Glauben und Gott“, wie sie beschreibt, tut es ihr gleich. „Als Jugendliche führte ich ein recht stürmisches Leben und vergaß Gott“, sagt sie heute. Aber alle Vergnügungen bis hin zu Extremsportarten helfen nicht. „Ich spürte immer, dass der Seele etwas fehlt.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Sinnsuche von Peggy Seidler weiterging.

Peggy Seidler, inzwischen mit einem sicheren Job in einer Klinik in Garmisch-Partenkirchen, beginnt, nach dem Sinn des Lebens zu suchen. „Ich war in der katholischen und in der protestantischen Kirche - leider erfolglos“, sagt sie. Und schiebt ein schmunzelndes „Gott sei Dank“ hinterher. Zu Esoterik und fernöstlichen Religionen fühlt sie sich nicht hingezogen. Wie das Kind, das sie war, betet sie zu Hause immer noch auf ihre eigene Art zu Gott, „dass er mich auf den richtigen Weg führen möge“.

Den Glauben gefunden

Es passiert dann ausgerechnet bei einem Urlaub in der Türkei. „Ich lernte dort ein russisches Ehepaar aus München kennen, wir wurden dicke Freunde und eines Tages beschwerte ich mich, dass ich den Weg zu Gott nicht finden kann.“ Was die beiden dann über den orthodoxen Glauben erzählen, findet Peggy Seidler so interessant, dass sie ihre neuen Freunde darum bittet, sie doch mal mit zu einem Gottesdienst zu nehmen.

Es ist der Anfang eines neuen Lebens. Und das Ende ihres alten, das sich nicht ankündigt, dem Peggy Seidler aber auch niemals mehr hinterhergetrauert hat. „Vom Gottesdienst verstand ich kein Wort, und als der Priester aus dem Altar heraustrat und alle vor dem Kreuz auf die Knie gingen, blieb ich anfangs als Einzige stehen.“ Erst als sie sich umschaut in der Münchner Christi-Auferstehungs-Gemeinde, durchzuckt sie der Gedanke: „Wahrscheinlich soll ich auch auf die Knie gehen.“

Schwer in Worte zu fassen

Und als sie es dann tut, geschieht, was Margarita Seidler heute noch schwer in Worte fassen kann. „Für diesen kleinen Schritt gab er mir die Gnade zu spüren, dass er in dieser Kirche anwesend ist, dass er mich liebt, auf mich wartet, und dass ich mein Leben um 180 Grad ändern muss.“ Margarita Seidler ist es ernst mit dem, was sie sagt. Sie blickt, so empfindet sie es bis heute, damals in den Abgrund eines leeren Daseins. „Gott gab mir die ganze Sinnlosigkeit meines Lebens zu verstehen. Das war überwältigend.“

Peggy Seidler hat ihren Gott gefunden. Sie geht nun regelmäßig zu den Gottesdiensten, sie möchte schnell getauft werden. Nach einem Jahr ist es soweit - aus Peggy wird Margarita. Ein Name, den 300 Jahre zuvor schon Margarita von Antiochia getragen hatte, eine Heidin, die auf dem Gebiet der heutigen Türkei zum Christentum fand und deswegen hingerichtet wurde.

Margarita Seidler sucht nach den Wurzeln ihres Glaubens. „Ich machte Pilgerfahrten nach Russland“, erzählt sie, „und jedes Mal, wenn ich zurückkehrte, fühlte ich mich fremder.“ Deutschland ist für sie ein Ort von „ungeheurem moralischen Verfall“, kombiniert mit „gesellschaftspolitischen und religiösen Umständen, in denen die christliche Kultur verdrängt wird und die Deutschen selbst langsam aussterben“. Hier will sie, hier kann sie nicht mehr sein.

Auf der folgenden Seite: Was die Suche nach Gott mit Kämpfen zu tun hat.

Seidler zieht in die Ukraine, wo sie in einem Kloster Aufnahme findet. Für die Wittenbergerin ein Traum. Hier fühlt sie sich nahe bei Gott, unter Gleichgesinnten, anderen Gläubigen. Die Seele, sagt sie, habe dort alles gehabt, was sie brauche. Arbeit, Gebet. Stille.

Doch die gerade erst von Gott erweckte Frau sieht sich auch als kämpferische Christin. Sie will nicht nur selbst ein gottesfürchtiges Dasein führen, sondern öffentlich für ihre Ideale eintreten. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew schließt sie sich der orthodoxen Bewegung „Volksdom der Ukraine“ an. Die Organisation macht Front gegen die aufkeimende Maidan-Rebellion, gibt eine Zeitung „Für Frieden“ heraus und agitiert gegen Rechte und Nazis, die die Westöffnung als Gelegenheit begreifen, das Erbe der ukrainischen Nationalisten anzutreten, die sich im Kampf gegen die verhasste Sowjetunion mit Hitler verbündeten.

Glaube an Freimaurer

So wie der Maidan die Öffnung nach Westen will, streiten Margarita Seidler und ihre Leute für eine Bindung an Russland. Das, so glaubt Seidler, bestehe historisch nicht nur aus dem Gebiet der heutigen Russischen Föderation. Nein, aus ihrer Sicht reicht die russische Welt, wie sie es nennt, bis nach Weißrussland und in die Ukraine.

In Kiew, das Anfang 2014 aufgeladen ist mit Spannungen, stehen Seidler und die Dom-Bewegung auf Seiten der gewählten Regierung, wie es Margarita Seidler nennt. Von einem Büro nahe des Maidan-Platzes unterstützen sie die Männer der Sonderpolizeieinheit Berkut mit warmen Sachen. „Wir wussten, dass nur sie zwischen uns und Leuten stehen, die uns vertreiben werden.“ Seidler ist überzeugt, dass der Aufstand von US-Geheimdiensten finanziert und von langer Hand vorbereitet war. „Alles läuft nach den Plänen der geheimen Vereinigungen, an deren Spitze die Freimaurer stehen“, versichert sie, für die der Maidan ein „Reich des Chaos“ bedeutet, von dem eine „Propaganda des Hasses“ gegen alles Russische ausgeht.

Flucht auf die Krim

Als die Aufständischen die Berkut-Leute in Straßenschlachten zurückdrängen, wird das Dom-Büro tatsächlich verwüstet. Ein Kollege wird entführt, verprügelt und gefoltert. Die Deutsche, die sich als Russin fühlt, flieht auf die Krim, wo sie sich der „Dvizhenya Novo-rossia“ - zu deutsch Bewegung Neurussland - anschließt.

Für die hübsche Frau, deren schmale Lippen auf Fotos aus jener Zeit selten lachen, ein konsequenter Schritt. Margarita Seidler sieht das Stück heile Welt bedroht, das „heilige Russland“, in dem das, was sie als westliche Dekadenz begreift, noch nicht Einzug gehalten hat. Der gewaltsame Umsturz in Kiew, glaubt sie, sei ein Versuch, „Schwulenehe, Multikulturismus und das Tolerieren amoralischer Gruppen“ nach Osten auszudehnen, wo, so Seidler, „der orthodoxe Glaube noch sehr stark ist“.

Lesen Sie auf der folgenden Seite, was es mit dem „Kampf gegen den Faschismus“ auf sich hat.

Sie empfindet den Sieg der westlich orientierten Ukrainer auch als persönliche Niederlage. Und sieht sich nach den ersten Meldungen über Kämpfe, bei denen sich im Donbass Maidan-Anhänger und Richtung Russland orientierte Kräfte gegenüberstehen, „in der Pflicht, die Leute dort zu verteidigen“. Ein Freund von ihr stirbt in den Gefechten. Ein anderer Freund kommandiert eine Kompanie. Margarita Seidler zieht nun in das, was sie den „Kampf gegen den Faschismus“ nennt. Aus der deutschen Krankenschwester Margarita wird im Donbass eine Soldatin, die Kampfanzug trägt und eine Kalaschnikow über der Schulter hängen hat. Auf Bildern flattert über ihr eine Fahne mit dem bärtigen Christus in der Mitte.

Kämpfe in der Ukraine

Eine Glaubenskriegerin, eine Kämpferin Gottes. Sie schläft im Bunker, während Flugzeuge Slawjansk bombardieren. „Auch Wohnviertel, und so viele Verletzte“, sagt sie. Sie fährt einen Krankenwagen durch die brennende Stadt und verbindet Verwundete. Sie kämpft mit der Waffe in der Hand, sie kämpft am Laptop und mit der Kamera. Irgendwann ist die Wittenbergerin Sprecherin der Separatisten. Das Gesicht des Aufstands im Osten.

Margarita Seidler macht ihre Sache hervorragend. Sie nennt die Kiewer Regierung separatistisch, weil sie das Land spalte. Sie nennt sie faschistisch, weil sie sich mit den Nazis des Rechten Sektors verbündet hat. Sie ruft im Internet nach „Menschen, die kämpfen, Panzern und Flugzeugen“. Sie gibt dem russischen Staatsfernsehen Interviews und erzählt, wie sie in Kramatorsk einen T-34 aus dem Weltkrieg vom Denkmalsockel holten und instand setzten, weil es den Volksrepubliken an schweren Waffen fehlte. Nein, russische Soldaten hat Margarita Seidler dabei nie gesehen. Russen schon, aber die seien alle Freiwillige wie sie selbst gewesen. „Die konnten am Anfang nicht einmal kämpfen.“

Orden für Tapferkeit

Margarita Seidler, die inzwischen meist wieder auf der Krim lebt, hat es gelernt, das bezeugen ihre zwei Orden am orange-schwarzen St. Georgsband. Das wird in Russland seit der Zeit Katharinas der Großen - einer anderen Frau aus Sachsen-Anhalt, die es nach Osten zog - als Auszeichnung für überragende Tapferkeit vergeben. Tapferkeit, die aus dem Glauben kommt, auf der richtigen Seite zu stehen. Für Margarita Seidler gibt es keine Zweifel. Russland, das steht für die alten Werte, die ihr wichtig sind. So wichtig, dass sie jederzeit dafür sterben würde. „Das ist manchmal besser“, sagt sie, „als ein Friede um jeden Preis.“ (mz)