Sozialgericht Dessau-Roßlau Sozialgericht Dessau-Roßlau: Urteile am laufenden Band
Halle/MZ. - Wie fast an jedem Freitag verhandelt die Vorsitzende der 14. Kammer hintereinanderweg. 9 Uhr, 11 Uhr, 11.45 Uhr, 12.15 Uhr. Alles Klagen um Hartz IV.
In der ersten Verhandlung sind Beiers die Kläger (Name geändert). Hartmut Beier war arbeitslos, bekam Hartz IV. Doch der Betrag für seine Tochter Lilly wurde gekürzt - auf ihrem Konto sei zu viel Geld und sie damit nicht anspruchsberechtigt, so die Begründung der zuständigen Arge. Hartmut Beier war damit nicht einverstanden. Nun sitzt er hier vor dem Richtertisch, klagt um sein Recht und die Nachzahlung für seine Tochter.
Die junge Richterin hat jede Menge Vorarbeit geleistet. Wie viel Geld steht Tochter Lilly zu, wie hoch ist der Betrag auf ihrem Konto, gehört dieses Geld tatsächlich dem Kind oder doch den Eltern? Die nämlich haben ihre Freibeträge nicht ausgeschöpft und wenn das Geld auf ihrem Konto läge, würden sie die volle Hartz-IV-Leistung für alle Familienmitglieder erhalten. Viele Fragen, viele Zweifel, was hier tatsächlich los ist.
Lillys Mutter wird als Zeugin gehört. Die Wirtschaftspflegerin ist sehr aufgeregt, hat Schwierigkeiten, die Fragen zu beantworten. Richterin Herzog versucht zu beruhigen, fragt behutsam, nimmt sich Zeit. Längst ahnt sie den Grund, warum das Geld, das aus einer Versicherungszahlung stammt, auf dem Konto des Kindes liegt. Ein Zufall brachte die Aufklärung. Als die Richterin zu Hause über den Akten grübelte, dachte sie laut nach: Warum deponieren Eltern Geld, das ihnen gehört, auf dem Konto des Kindes? Ihr Partner, der bei einer Bank arbeitet, wusste sofort Bescheid: Konten für Kinder werden höher verzinst. Deshalb hatten die Eltern das Geld dort eingezahlt.
So ist es tatsächlich, ergibt die Verhandlung und Sandra Herzog kann nach einer guten halben Stunde den Fall abschließen: Die beklagte Arge muss nachzahlen. Monat für Monat - bis auf den letzten Eurocent hat die Richterin ausgerechnet wie viel, es sind genau 938 Euro. Ein schönes Ergebnis, Beiers sind zufrieden. Der Vertreter der Arge ist es auch, obwohl die Behörde zahlen muss. "Juristisch gesehen geht es hier um eine verdeckte Treuhand", erklärt die 32-jährige Richterin, "diesen Sachverhalt haben wir in der Verhandlung diskutiert und dafür hätte die Arge gern ein Urteil. Das gibt Rechtssicherheit, wenn sie künftig mit einem ähnlichen Fall konfrontiert wird." Hätte man in einem persönlichen Gespräch ohne Gerichtsverhandlung nicht auch zu diesem Ergebnis kommen können? "Viele Dinge lassen sich ohne Verhandlung lösen", sagt die junge Frau. Das weiß sie, denn vor dem Verhandlungstermin liegt häufig ein Erörterungstermin. Bei diesem wird versucht, einen Vergleich zu erreichen. Das kürzt letztlich die Verfahrensdauer ab, denn Beiers Klage stammt wie die nachfolgenden an diesem Tag aus dem Jahr 2006! So lange mussten sie auf das ihnen zustehende Geld warten. "Das ist eigentlich nicht zumutbar", weiß Sandra Herzog. Doch die anschwellende Flut der Klagen belastet die Gerichte immer stärker.
Im Jahr 2004 kam Richterin Herzog nach Abschluss ihres Referendariats zum Sozialgericht Dessau-Roßlau, 2007 wurde sie zur Richterin auf Lebenszeit berufen. Die anfänglich sechs Kollegen sind inzwischen 14, doch auch die Zahl der Klagen steigt. "Und die Akten werden immer dicker", schiebt die Köthenerin nach. "Die Behörden erlassen massenhaft Bescheide, so dass wir oft erst einmal klären müssen: Welcher ist eigentlich jetzt aktuell?" Dazu kommen etliche Änderungen in den Bestimmungen zu Hartz-IV-Leistungen. Und so dauern die Verfahren auch immer länger, obwohl die Richter immer mehr Fälle pro Jahr bearbeiten. Inzwischen liegt auf dem Tisch von Sandra Herzog nur noch eine unerledigte Klage von 2006. Genau vor einem Jahr waren es immerhin noch 78 solcher Altfälle.
Mittlerweile ist es 11 Uhr, der nächste Fall wird verhandelt. Es geht um drei verschiedene Widerspruchsbescheide: zu einer Dachreparatur, zu Kanalisationsanschlussgebühren und Straßenausbaubeträgen, die der Kläger - Hartz-IV-Empfänger - als Kosten für die Unterkunft vom Landkreis erstattet bekommen möchte - er verfügt schlicht nicht über genügend finanzielle Mittel. Einen Teil hat der Landkreis übernommen, zu viel, wie er inzwischen findet und deshalb sogar Geld zurück fordert, den Rest lehnt er ganz ab. Die Rede ist von Änderungsbescheiden, Widersprüchen, Zwölftelung von Kosten, Kostenvoranschlägen . . .
Präzise und hartnäckig hakt Sandra Herzog immer wieder nach. "Ich möchte es schon ganz genau wissen", wird sie später sagen. "Was meine Arbeit betrifft, da bin ich akribisch. Fünfe grade sein lassen, liegt mir gar nicht, da fühle ich mich nicht wohl dabei." Im Privaten, lässt sie durchblicken, hat sie es allerdings lieber unkompliziert und handhabt die Dinge schon mal großzügig. Zur Genauigkeit, mit der sie Sachverhalten nachspürt, ist sie allerdings verpflichtet, denn Richter an Sozialgerichten haben eine Amtsermittlungspflicht. Das bedeutet, es gibt niemanden, der ihr abnimmt, herauszubekommen, wie ein Fall tatsächlich liegt. Das muss sie selbst tun "und dazu brauche ich auch ein gewisses kriminalistisches Gespür", sagt sie. Dass die Lösung eines kniffligen Falles auch Spaß machen kann, verhehlt sie nicht.
Jetzt aber geht es um Kostenvoranschläge, bezahlte und gestundete Rechnungen, Ratenbeiträge. Und dann ist plötzlich alles ganz einfach. Das undichte Dach, das der Kläger reparieren lassen und vom Landkreis bezahlt haben wollte, ist bis heute nicht in Ordnung gebracht. Der Kläger aber ist längst Rentner geworden und kein - so heißt es juristisch - Leistungsempfänger mehr. Einen Anspruch aber, dass er für die Kosten der Unterkunft und damit sein Dach Geld bekommt, hat er nur, wenn er auch Hartz-IV-Empfänger ist. Und Kanalgebühren und Straßenausbaubeträge? Da folgt die nächste komplizierte Runde. Sandra Herzog hat wieder alles ausgerechnet. "Mein Leistungskurs in Mathe lohnt sich heute noch", scherzt sie später. Eigentlich hat der Kläger schon zu viel bekommen, zurückzahlen muss er jedoch nichts. Am Ende der Verhandlung ist klar, dass alle Beteiligten noch einmal die gegenseitigen Forderungen genau benennen müssen. "Sie sind nun schon die dritte Richterin an diesem Fall", moniert der Anwalt des Klägers. Doch Sandra Herzog ist zuversichtlich, die Sache dann vom Tisch zu bekommen.
Nicht nur Hartz-IV-Fälle sind ihr Metier. "Das wäre dann doch etwas einseitig", meint die junge Frau mit der Hochsteckfrisur. "Auch Rentenversicherungsklagen gehören zu meinem Rechtsgebiet. Das ist jede Menge interessanter Stoff." Zwar hatte sie ursprünglich Arbeitsrecht für sich favorisiert, doch im Sozialrecht fühlt sie sich ebenso zu Hause. Trotz des enormen Arbeitspensums, denn mehrfach in der Woche schiebt sie nach 20 Uhr, wenn die kleine Tochter im Bett liegt, am heimischen Schreibtisch noch eine Extraschicht. 318 Fälle ist die Richtzahl für erledigte Verfahren. Rund 450 hat sie 2009 auf dem Tisch gehabt.
Der letzte für heute: Eine Hartz-IV-Empfängerin lebte mit einem Mann zusammen. Keine Bedarfs-, eine Wohngemeinschaft, sagt sie. Der Landkreis sah es anders, da löste sie die Wohngemeinschaft auf und mietete eine eigene Wohnung. Dort aber, stellte sich heraus, war sie damals 2006 nie wirklich eingezogen. Die Behörde aber zahlte die Unterkunft. Dieses Geld will sie jetzt zurück. Und Rita M. muss zahlen, über 2 000 Euro. Heute wohnt sie in der Wohnung, die Forderung zur zurück liegenden Zeit aber, ist rechtens.
Ende des Verhandlungstages. Nur wenig später sitzt Sandra Herzog im Zug nach Hause. Gleich abschalten kann sie nicht, obwohl der Tag vergleichsweise wenig Fälle bereit hielt. Sie hatte auch schon bis zu 14 Termine an einem Tag. . .