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Schicksale Schicksale: Die ungewollten Kinder

Von Katrin Löwe und Heidi Pohle 02.11.2006, 18:52

Halle/MZ. - 2. November: Ein kalter Tag in Halle, an dem die Geschichten zweier Frauen sichtbar werden, die eines gemeinsam haben. Sie waren ungewollt schwanger.

Hansering, Landgericht: Mit Sonnenbrille erscheint Sandra N. vor Saal 123. Kamerablitze erhellen den dunklen Flur. Als die 23-Jährige, gepflegt mit modischer Kurzhaarfrisur, wenig später im Saal sitzt und mit zittriger Stimme ihre Personalien bekannt gibt, kämpft sie mit Tränen. Auf ihr lastet ein schwerer Vorwurf: Sie soll, so Staatsanwalt Klaus Wiechmann, am 14. März 2006 in ihrer Teutschenthaler Wohnung einen Sohn geboren und ihn erstickt haben. Gut vier Wochen später wurde die Leiche, eingewickelt in Tüten, an einem Feldweg bei Teutschenthal gefunden. Mittels DNA-Probe kam die Polizei Sandra N. auf die Spur.

Rudolf-Ernst-Weise-Straße, Mutter-Kind-Haus: Mara-Johanna hat mit ihrem Bruder Janne-Peter den ganzen Vormittag gespielt. Nun ist die Dreijährige müde. Widerspruchlos lässt sie sich von ihrer Mutter ins Bett bringen. Jenny Hadasch deckt sie liebevoll zu, bleibt noch eine Weile sitzen, hält die Hand ihrer Tochter. Dass Johanna nicht da sein könnte, ist für die junge Frau mit den Zöpfen ein absurder Gedanke. Doch vor rund vier Jahren wollte sie das Kind nicht einmal auf die Welt bringen.

Heute ist die 29-Jährige zur Eröffnung des Mutter-Kind-Hauses vom Hamburger Verein Sternipark gekommen. Zehn Plätze für betreutes Wohnen sind hier entstanden. Für Frauen wie Jenny Hadasch, die sich an ihre damalige Situation erinnert: arbeitslos, alleinerziehend, ohne familiäres Umfeld. "Peter war zwei Jahre alt und ich ungewollt wieder schwanger", sagt die aus Halberstadt stammende Frau. Sie sei in ein "schwarzes Loch" gefallen, nur im Dunkeln einkaufen gegangen aus Angst, jemand könnte ihren immer dicker werdenden Bauch bemerken. "Ich fürchtete, dass man mir Peter wegnimmt, wenn ich gesagt hätte, dass ich mich mit zwei Kindern überfordert fühle", sagt sie und betont, immer eine gute Mutter gewesen zu sein.

Landgericht, Saal 123: Sandra N. schweigt. In einer Erklärung ihrer Verteidigerin Sabine Grunow jedoch wird deutlich: Auch die arbeitslose Zahnarzthelferin wollte kein Kind. Nur wenige sollen von ihrer Schwangerschaft gewusst haben. "Sie wollte in der Klinik entbinden und es sofort zur Adoption freigeben", so Grunow. Dann sei die 23-Jährige in der Badewanne von der Geburt überrascht worden. "Sie hat kein Lebenszeichen festgestellt", sagt die Anwältin. Gewalt habe es nicht gegeben. Ihre Mandantin habe das Baby für tot gehalten. Der Staatsanwalt sieht das anders. Sandra N. habe ihren Sohn töten wollen, ihn so in ein Handtuch gewickelt, dass er erstickte. Zwei, drei Tage lag das Kind dann in der Wanne, ehe N. es wegbrachte.

Mutter-Kind-Haus, am Bett von Johanna: Jenny Hadasch erinnert sich an eine Fernseh-Sendung über den Verein Sternipark. Im siebten Monat schwanger, wählte sie dessen bundesweite Notruf-Nummer 0800-4560789, kam in ein Mutter-Kind-Haus in Satrup (Schleswig-Holstein). "Man drängte mich zu nichts, so dass ich nach ein paar Tagen selbst zu erzählen begann", so Jenny. Schon vor der Geburt habe festgestanden, dass sie ihre Tochter behält. Trotzdem wurde Johanna acht Wochen von Pflegeeltern betreut, damit Jenny sich auf ihre neue Situation vorbereiten konnte. Neun Monate war sie im Sterni-Haus, die Kosten zahlte das Jugendamt. Hätte sie anonym dort gelebt, wären Spenden genutzt worden.

Landgericht, vor einer Leinwand: Unter Tränen verfolgt Sandra N. ein Video. Es zeigt Szenen von dem Tag, an dem die Polizei mit ihr in der Wohnung die Geburt rekonstruierte. Als Sandra N. zeigte, wie sie mit einer Nagelschere die Nabelschnur durchtrennte. Aus der Wanne stieg, das Wasser abließ, das Kind in ein Handtuch wickelte und in die Wanne legte.

Mutter-Kind-Haus: "Ich kann nur allen Frauen Mut machen, Hilfe zu suchen und anzunehmen", sagt Jenny, die inzwischen im Norden eine Arbeit als Lageristin gefunden hat. Ein Leben ohne ihre Tochter könne sie sich nicht mehr vorstellen, sagt sie und macht leise die Tür zu. Johanna schläft jetzt fest.

Landgericht: Der erste Prozesstag ist beendet. Sandra N., die im Frühjahr drei Wochen in Haft saß, kann vorerst nach Hause. Am nächsten Prozesstag soll der Gutachter erklären, ob ihr Kind gelebt hat.