Kritik an Ermittlungen Kritik an Ermittlungen: Brutale Überfall-Serie auf Supermärkte in Sachsen-Anhalt

Halle (Saale) - Sie kamen kurz vor Ladenschluss. Beim ersten Überfall auf den Nahkauf-Markt in Osternienburg (Anhalt-Bitterfeld) waren es drei Personen. Mit einer Eisenstange bewaffnet, bedrohten sie erst Mitarbeiter. Dann rissen sie die Geldkassette der Kasse aus der Verankerung und verschwanden. Mitte April 2018 war das.
Beim zweiten Mal, im November vergangenen Jahres, kam nur ein Täter in den Einkaufsmarkt. Er hatte es wieder auf die Geldkassette abgesehen. In einem unbeobachteten Moment stahl er den Einschub und floh. Der finanzielle Schaden für den Supermarkt liegt im vierstelligen Bereich.
Nach Überfällen in Osternienburg: Geschäftsführer enttäuscht über die Ermittlungen
„Wenn ich an die beiden Überfälle denke, dann schwillt mir der Kamm“, sagt Quirin Forster. Er ist der Geschäftsführer der Agrar-, Produktions- und Handelsgesellschaft Hinsdorf (APH), einem der größten landwirtschaftlichen Betriebe in Anhalt-Bitterfeld. Neben vielen Hektar Land besitzt das Unternehmen auch zwei Einkaufsmärkte - einer davon ist der Nahkauf in Osternienburg.
Die Aufregung von Forster hängt nicht nur damit zusammen, dass einer seiner Märkte gleich zweimal in einem Jahr ausgeraubt und bestohlen wurde. Forster ist auch enttäuscht über die Ermittlungen. „Seit den Überfällen ist nichts passiert“, sagt er. Nach der ersten sowie der zweiten Tat habe man das Material der Kameras an die Polizei weitergegeben. „Geschnappt wurde aber bisher noch niemand“, sagt der Geschäftsführer.
Überfälle zeigen viele Gemeinsamkeiten auf
Wie Forster geht es derzeit vielen Supermarkt-Eignern und Filialleitern im Land. Denn Sachsen-Anhalt erlebte in den vergangenen knapp zwölf Monaten eine regelrechte Flut von Supermarkt-Überfällen. Nach MZ-Recherchen kam es von April 2018 bis Anfang März dieses Jahres zu mindestens 25 Vorfällen dieser Art sowie zwei Versuchen.
Eine außergewöhnliche Häufung. Und die Dunkelziffer könnte noch deutlich höher sein. Denn die Polizei veröffentlicht nicht jede Tat. So wurde am 13. Februar im Penny-Markt in Kleinkühnau (Dessau-Roßlau) eine Geldkassette aus der Verankerung gehebelt. Erst auf Nachfrage der MZ bestätigte die Polizei den schweren Diebstahl. Auf eine Veröffentlichung sei zuvor aus ermittlungstaktischen Gründen verzichtet worden, hieß es.
Allein die Vielzahl der Taten wirft die Frage auf: Handelt es sich bei den Überfällen auf Supermärkte um die Tat von Serienverbrechern? Dafür spricht, dass es in vielen Fällen Gemeinsamkeiten gibt. So kamen die Kriminellen - meist waren es zwei - fast immer kurz vor Ladenschluss.
Überfallserie in Sachsen-Anhalt: Täter werden auf 18 bis 35 Jahre geschätzt
Ein naheliegendes Vorgehen, da die späte Uhrzeit volle Kassen verspricht und eine Flucht im Schutz der Dunkelheit ermöglicht. Außerdem wurden fast durchweg Läden ausgesucht, die etwas abgeschieden liegen - auch hier wohl, um unentdeckt fliehen zu können. Zeugen schätzten die Verbrecher auf 18 bis 35 Jahre.
Ihre Kleidung wurde in der Mehrzahl der Fälle als dunkel beschrieben. Sie waren vermummt und trugen meist eine tief ins Gesicht gezogene Mütze. Wenn die Täter etwas sagten, dann in akzentfreiem Deutsch. In wenigen Fällen berichteten Zeugen auch von einem regionalen Dialekt.
Wichtigster Hinweis, dass es sich zumindest bei einem Großteil der Überfälle um ein- und dieselben Täter handelt, ist jedoch das Vorgehen der Kriminellen. „Wir haben das markante Merkmal, dass die Kassetten aus den Registrierkassen herausgerissen wurden“, sagte Halles Kripo-Chef Hauke Riek der MZ Mitte Februar in einem Interview.
Damals war es im Bereich der Polizeiinspektion (PI) Halle innerhalb von nur drei Wochen zu acht Überfällen gekommen. Riek betonte in dem Interview auch, wie dreist und rabiat die Kriminellen vorgegangen seine.
Die Unterschiede bei den Überfällen auf Supermärkte
Allerdings: Auch die Überfälle im Bereich der PI Halle liefen nicht durchweg nach dem gleichen Muster ab. Neben dem Diebstahl der Geldkassette gab es auch räuberische Erpressungen, bei denen Supermarkt-Mitarbeiter mit einem Messer oder einem pistolenähnlichen Gegenstand bedroht und zur Herausgabe von Geld gezwungen wurden.
Und auch über den Bereich der PI Halle hinaus lassen sich solche Unterschiede feststellen. So war in Aken (Anhalt-Bitterfeld) im Oktober 2018 ein Trio am Werk, zu dem auch eine Frau gehörte. Der Vorfall ereignete sich damals am frühen Nachmittag. Deswegen ist die Polizei zurückhaltend, was die Serien-Vermutung angeht. Zusammenhänge würde natürlich geprüft, sagte ein Sprecher der PI Halle im Februar der MZ. „Diese können jedoch bis dato weder abschließend bestätigt noch ausgeschlossen werden.“
Erinnerung an Straftaten der „Pizza-Bande“ in Halle
Angesichts der vielen Fälle wird auch die Erinnerung an eine der größten Verbrechensserien der jüngeren Vergangenheit in Sachsen-Anhalt wach. Anfang 2017 verübte die sogenannte „Pizza-Bande“ in Halle mehrere Straftaten. Am markantesten waren dabei die räuberischen Erpressungen von Pizzaboten.
Wie sich herausstellte, handelte es sich um mehrere Täter, die in verschiedenen Zusammensetzungen agierten und auch Spielhallen, Tankstellen und Einkaufsmärkte überfielen. Die Polizei konnte damals die Täter mittels einer Telefonüberwachung relativ schnell ermitteln.
Im Fall der Supermärkte gestaltet sich die Suche nach den Kriminellen jedoch schwieriger. Zumindest tappt die Polizei nach fast einem Jahr noch immer im Dunkeln. Das hat wohl zum einen damit zu tun, dass die Taten in unterschiedlichen Regionen verübt wurden - also auch unterschiedliche Dienststellen damit befasst sind.
Angefangen hatten die Überfälle im Raum Köthen. Dann wanderten sie gegen Ende 2018 schwerpunktmäßig in den Saalekreis. Ab Januar gab es dann die Serie in und rund um Halle. Zuletzt waren Ende Februar zwei Märkte in Magdeburg das Ziel.
Halles Kripo-Chef: „Die klassische Spurensicherung ist schwierig“
Zudem werden die Überfälle so verübt, dass nur wenige Ermittlungsansätze vorhanden sind. „Die klassische Spurensicherung ist schwierig, weil die Aufenthalte am Tatort nur kurz sind und die Tatwerkzeuge mitgenommen werden“, sagte Halles Kripo-Chef Hauke Riek im Interview. Auch Zeugenbefragungen und zusätzliche Streifenfahrten waren bisher nicht erfolgreich. Ulrike Diener, Sprecherin der PI Halle, versichert jedoch: „Die Ermittlungen werden mit Hochdruck geführt.“
Für Quirin Forster, den APH-Geschäftsführer, ist das nur ein schwacher Trost. „Wir wären erleichtert, wenn endlich mal ein Täter gefasst werden würde“, sagt er. Seine Mitarbeiter im Nahkauf hätten die Überfälle schon verängstigt. „Die sehen jetzt verständlicher Weise hinter jeder Ecke einen Schatten“, so Forster. Nach dem zweiten Überfall im November hatte ein Angestellter des Nahkaufs, der in der Zeitung nicht genannt werden wollte, bereits gegenüber der MZ seine Befürchtungen geschildert. Bisher seien die Täter nur mit einem Brecheisen aufgetaucht. Er frage sich nun, „wann sie mit Waffen kommen werden“.
Und dass sie zurückkommen, ist nicht ausgeschlossen - im Nahkauf in Osternienburg wie in allen anderen Supermärkten. Denn auch wenn der letzte Überfall in Magdeburg bereits knapp zwei Wochen her ist, zeigt die Rückschau, dass es immer wieder Pausen in der Serie gab. Auch deswegen ist die aktuelle Situation für Quirin Forster unbefriedigend. „Wir haben nun schon überall Kameras - mehr können wir ja nicht machen“, sagt er und klingt dabei ebenso rat- wie hilflos. (mz)