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Häuser weg, Familien auch Kleinstes Dorf im Saalekreis: Wie Neuragoczy vom Sturm weggefegt wurde

Von Robert Briest 03.10.2017, 10:00
Sechs bewohnte Häuser gibt es in dem Saaledorf noch. Für die Passanten auf der Kopfsteinpflasterstraße sind die teils nur zu erahnen.
Sechs bewohnte Häuser gibt es in dem Saaledorf noch. Für die Passanten auf der Kopfsteinpflasterstraße sind die teils nur zu erahnen. Robert Briest

Neuragoczy - Wenn Siegfried Taube an den 7. Juli 2015 zurückdenkt, dann spricht er von der „Katastrophe“. Sie hat sein Heimatdorf dauerhaft verändert. An jenem Sommerabend vor zwei Jahren zog ein tornadoartiger Sturm über Neuragoczy hinweg und hinterließ eine Schneise der Verwüstung.

Verwüstung in Neuragoczy: Nach dem Sturm verließen mehrere Familien den Ort

Die Bäume im Park, der der einzigen Nebenstraße im Ort ihren Namen gegeben hat, wurden umgeweht. Teilweise stürzten sie auf Häuser. Eines musste in der Folge sogar abgerissen werden, berichtet Taube. Mehrere Familien verließen den Ort und machten Neuragoczy so zum wohl kleinsten Dorf des Saalekreises. 13 Einwohner zählt die zuständige Gemeinde Salzatal. Auf so viele kommen die Neuragoczyer nicht. Nach ihren Zählungen sind sie noch zu zehnt - verteilt auf sechs Häuser.

In seiner Anfangszeit hier seien es mal 99 gewesen, berichtet Taube. Der Rentner zog 1972 in das Saaledorf, in das Haus auf einem Hügel am Ortseingang, oberhalb der charakteristischen Kopfsteinpflasterstraße auf der die Autos von Halle zur Fähre gen Brachwitz rattern. „Taube’s Hof“ steht heute an der gelben Fassade. Teile des Dachs sind frisch gedeckt, auch hier schlug der Sturm zu.

Den Pferdestall hat er wieder aufgebaut, ein alter Bauwagen dient als Hühnerstall. Taube trägt zerschlissene Jeans mit Hosenträgern und Karohemd. Er ist Hobbybauer. In seinem großen Garten stehen Mais und Paprika. Er sei zum Teil Selbstversorger, sagt der Rentner.

Keine schlechte Sache in einem Ort ohne direkte Nahverkehrsanbindung und Einkaufsmöglichkeit. Früher habe es noch einen Konsum gegeben, erinnert sich Taube: „Da stand eine Kiste davor, da hat man morgens seinen Einkaufsbeutel mit Zettel reingetan und abends, wenn man von der Arbeit kam, hing der dann gefüllt da.“

Kleinstes Dorf im Saalekreis: Neuragoczy hat seine besten Zeiten längst hinter sich

Früher. Bei Gesprächen über Neuragoczy bietet sich die Vergangenheitsform an, denn das Dorf hat seine besten Zeiten schon länger hinter sich. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde den brom- und eisenhaltigen Quellen hier eine Heilwirkung unterstellt, ein Badehaus und ein Park entstanden. Weil das Wasser dem der Ragoczy-Quellen in Bad Kissingen ähnelte, erhielt der Ort den Namen Neuragoczy mit dem Vorsatz „Bad“. Das Dorf etablierte sich als Ausflugsort.

Heute steht das Kurhaus leer. Die letzten Bewohner hat der Sturm vertrieben. Der Park, der einst ein, wie Taube berichtet, auch bei Paaren beliebtes Ausflugsziel war, ist ein Dickicht. Ohne gleicht die Natur in Neuragoczy mit den wilden Büschen und ramponierten Bäumen einem Regenwald. In ihrer Wildromantik hat sie einen gewissen Charme.

Fast verlassenes Neuragoczy: Das Dorfleben wie früher gibt es heute nicht mehr

Die bewohnten Häuser stehen entlang eines löchrigen Schotterweges, den Taube scherzhaft als „Hauptstraße“ anpreist. Er windet sich über einen Hügel bis hinunter zur alten Fabrik. Bis 1988 wurde hier Mineralwasser abgefüllt. Dann war die Nitratbelastung zu hoch. Naja, die Bauern der Kolchose hätten den Dünger ja auch in Massen auf die Felder laufen lassen, erzählt Taube.

Er kommt an einem überwucherten Weg vorbei. „Früher war das alles gepflegter, da hat jeder noch Hand angelegt. Und dahinten fand immer das Buschfest statt.“ Mit Schießbuden und allem. Jeder Bewohner habe damals etwas beigetragen. „Das war richtig familiär.“ Dieses Dorfleben gibt es heute nicht mehr. „Seit der Katastrophe hat sich das auseinandergelebt.“ Doch schon lange vorher sind viele aus Neuragoczy gegangen. „Die Kinder sind bei Heirat immer woanders hingezogen.“ Auch seine drei eigenen hätten diesen Weg gewählt.

Winziges Dorf im Saalekreis: Neuragoczy ist der perfekte Ort für Einsiedler

Hartmut Renner ist hingegen den umgekehrten Weg gegangen. Er wohnt erst seit zwei Jahren in dem winzigen Dorf und das im vielleicht überraschendsten Haus in Neuragoczy: der alten Fabrik. Von der Saaleseite aus gesehen, wirkt sie verlassen. Doch innen öffnet sich ein weiter Raum. Sonne dringt durch die großen Oberlichter. Von der Decke hängen Leuchter. Kunstfotografien hängen an den Wänden. In der Mitte steht eine große Tafel mit Stühlen. Seine Lebensgefährtin, eine Fotografin aus Halle, habe die Fabrik in den 90ern gekauft. Stück für Stück sanieren sie das Haus bis heute weiter, berichtet der Bildhauer.

Die beiden Künstler haben hier ihre Studios und Ateliers. Gelegentlich vermieten sie das Areal samt Garten für Feiern. „Es ist ja aufwendig, so ein Gebäude zu erhalten.“ Warum sie hier rausgezogen sind? „Es ist schon schön hier draußen“, antwortet Renner. „Man ist nah an Halle und kann doch allein in der Natur wohnen. Und ich mache ja auch mal Krach beim Arbeiten, da ist es günstig, wenn der Nachbar nicht so dicht dran ist.“

Nun, mehr als 100 Meter Luftlinie sind es auf jeden Fall bis zu den nächsten bewohnten Häusern, seit die Sturmschäden die nächsten Nachbarn vertrieben haben. Büsche und Bäume nehmen die direkte Sicht.

Auch Taube kann trotz des verschwundenen Waldes keinen Blickkontakt zu seinen Nachbarn aufnehmen. Und das ist ihm auch Recht so. „Ich fühle mich hier wohl. Ich wollte eigentlich nie Nachbarn haben. Ich bin Einsiedler.“ Und für Einsiedler ist Neuragoczy auch nach der „Katastrophe“ noch ideal. (mz)

Siegfried Taube auf der „Hauptstraße“ von Neuragoczy.
Siegfried Taube auf der „Hauptstraße“ von Neuragoczy.
Robert Briest
Die Blütezeit als Kurort an der Saale
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Robert Briest