Prognose Anhalt 2050 Prognose Anhalt 2050: Eine Stadt aus Dessau-Roßlau und zwei Landkreisen?

Halle/MZ - Sachsen-Anhalt im Jahr 2050 - wie gestaltet sich das Leben angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung? Eine Projektgruppe des Bauhauses Dessau hat dafür drei Szenarien entwickelt. Heute stellen wir das Konzept „Stadtverband Anhalt“ vor. Erarbeitet wurde es zusammen mit dem Stadtsoziologen Walter Prigge, den Text schrieb die Dessauer Stadtplanerin Regina Sonnabend.
Ausgangspunkt der Überlegungen, so sagt Walter Prigge, sei die Prognose gewesen, dass die Städte weiter an Einwohnern verlieren. „Hinzu kommt, dass jede für sich 2050 gar nicht mehr leistungs- und lebensfähig ist.“ Notwendig sei eine viel stärkere Verflechtung mit der Region als heute. Die Probleme könnten nur gemeinsam gelöst werden. Prigge spricht von einer Regionalisierung der Stadtentwicklung, zu der es aus finanziellen Gründen keine Alternative gebe. „Wir müssen radikal arbeitsteilig denken, jede Stadt muss ihr Profil finden und stärken“, unterstreicht er. Zudem würden die Bürger gefordert, ihr Leben stärker selbst zu organisieren. Der Sozialstaat werde nicht mehr überall alle Leistungen vorhalten können.
An einem Spätnachmittag im Frühjahr 2050 bringt Anton Becker seine Agroholzernte nach Zörbig. Von der Sammelstelle und Verladestation geht der Transport auf der früheren „Marmeladenbahn“ in den BioPlastParc nach Bitterfeld. Ab den 2020er Jahren wurde dieser zentrale Industriestandort der Region für die Produktion von Kunststoff aus Biomasse umgebaut. Nachwachsende Rohstoffe sind der wichtigste Grundstoff; Biomasse wird nur noch partiell zur Energieproduktion verwendet. Die Wertschöpfung in der Grünen Chemie ist höher.
Von der Verladestation fährt Becker an den Zörbiger Haltepunkt der S-Bahn. Dort wartet seine Tochter Anna. Sie arbeitet seit Kurzem als Technikerin bei der Regio-Stadtwerke AG in Dessau, an der Becker auch ein paar Aktien hält. 2020 fusionierten alle Stadtwerke der Region zu einem schlagkräftigen Mobilitäts- und Energiedienstleister. Sie bauten die wichtigste Basisinfrastruktur für die 2025 neu zusammengeschlossene Stadtregion Anhalt aus und wurden zum Betreiber der Regio-Stadtbahn. Anstatt weiter für die Wiedereröffnung eines Fernbahnhofs in Dessau zu kämpfen, hat sie die Verbindungen innerhalb der Region wesentlich verbessert, so dass die Orte gut vernetzt sind. Über den Regio-Bahnhof im Stadtteil Bitterfeld ist die Region Anhalt heute an das nationale und europäische Schnellbahnnetz angeschlossen. „Energie- und Wärmeproduktion spielen bei den Stadtwerken heute keine so große Rolle mehr“, sagt Anna. Haushalte und Unternehmen produzieren häufig selber Strom und Wärme und speisen Überschüsse ein. In den Stadtteilen Wittenberg und Dessau gibt es große Energiegenossenschaften, die schon vor 25 Jahren in das regionale Verteilernetz investiert haben.
Am nächsten Morgen fährt Anna mit ihrem Elektro-Fahrrad zur S-Bahn und besteigt den Zug nach Dessau. Nach der Einpreisung von CO2- und Treibhausgas-Emissionen in die Transportkosten begann der Ausbau klimafreundlicher, öffentlicher Verkehrsmittel auch in der Region.
In Bitterfeld steigen Fahrgäste aus dem Regio-Sprinter zu. Es wird Englisch gesprochen. Eine Gruppe internationaler Wissenschaftler reist zu einer Tagung des Umweltbundesamtes. Rosita Jiménez begleitet sie. Vor 20 Jahren kam sie zum Studium der Bio- und Verfahrenstechnologie nach Köthen. Nach dem Master wurde sie als Ingenieurin in der kleinen Forschungsabteilung ihres Praktikumsbetriebes eingestellt. Sieben Jahre später wechselte sie an das Umweltbundesamt in Dessau.
Die S-Bahn fährt jetzt in den Stadtteil Dessau ein, vorbei an großen Solar- und Windkraftanlagen. Sie stehen auf Industrie- und Wohnungsbauflächen, die zwischen 1990 und 2025 brach fielen und deren Bauten sukzessive abgerissen wurden. Dessau ist kleiner geworden. Rosita und ihr Mann Erik haben sich dennoch für Dessau entschieden. Sie sind begeisterte Faltbootfahrer und schätzen die Landschaft an Elbe und Mulde. Außerdem sind sie Fans des Anhaltischen Theaters und Mitglieder einer Theaterstiftung, die die traditionsreiche Einrichtung schon 2020 vor der Schließung bewahrte. Die Stadt Dessau-Roßlau musste damals ihre jährlichen Zuschüsse massiv reduzieren. Doch das Theater ist in der Region gut verwurzelt. Nach der Schließung des Theaters in Wittenberg und einem Intendantenwechsel in Dessau hatte das Anhaltische Theater sein Gebäude zunehmend verlassen und an den verschiedensten Orten der Region gespielt. So traten 2020 nicht nur die benachbarten, damals noch eigenständigen Landkreise der Stiftung bei, sondern auch eine große Zahl von Bürgern.
Am Bahnhof Dessau begrüßt Erik seine Frau. Mit ihren Kindern leben sie nahebei in einem Stadthaus. Die Baugruppe, zu der Erik und Rosita gehörten, hatte 2033 eines der letzten freien Grundstücke in der Dessauer Nordstadt erworben. Infolge der europäischen Schulden- und Finanzkrise zogen ab 2015 die Immobilienpreise und Mieten in Berlin und Leipzig drastisch an. Für Berufspendler und neue Arbeitskräfte wurde Dessau als Wohnstandort daher interessanter; der Zuzug kompensierte den Rückgang der Bevölkerung aber nicht.
Geert Höven, Rositas Nachbar, begegnet ihnen auf dem Nachhauseweg. Er arbeitet als Umweltmediziner am Forschungsklinikum in Alten. Die Umweltmedizinforschung hat sich während der letzten 30 Jahre zu einer neuen Produktivitätsbasis in Dessau entwickelt. Der Impuls ging von einer durch die Stadt Dessau unterstützten Kooperation des Umweltbundesamtes mit dem Städtischen Klinikum aus.
Und Wittenberg? Es ist Nachmittag in der Lutherstadt. Anton Becker nimmt als ehrenamtliches Mitglied am Regionalkonvent teil. Das Parlament der Region löste 2025 den Dessauer Stadtrat und die beiden Kreistage ab. Sie beraten wechselnd in den Stadtteilen, heute in der Lutherstadt. Hier hat das touristische Jahr erst begonnen. Es bringt über den Sommer bis zum Reformationstag viele Gäste in die Stadt. Den Rest des Jahres genügt sie sich selbst. Bewohner, Unternehmen und öffentliche Einrichtungen haben sich auf den Typ „Saisonstadt“ eingestellt.
Für das ländliche Umland ist der Stadtteil Wittenberg ein wichtiges Versorgungszentrum geblieben. Hier sind Ärzte, Dienstleistungen, Kultur- und Bildungsangebote zu finden, nicht zuletzt das auf Gartenbau und Agrarökologie spezialisierte Fachgymnasium und Berufsschulzentrum. Schulträger ist der Stadtverband Anhalt; ebenso für die Berufsschulzentren in Bitterfeld und Dessau.
Mit freiwilligen Kooperationen zur Regionalplanung, Wirtschafts- und Tourismusförderung hatte man schon in den 1990er Jahren begonnen. Der drastische Rückgang der Bevölkerung und, damit verbunden, der Rückgang öffentlicher Mittel machten ab 2020 eine grundlegende, demokratisch legitimierte Reform der regionalen Zusammenarbeit unumgänglich. Das war die Geburtsstunde der Stadt Anhalt, wie sie im Alltag genannt wird, richtiger aber des Stadtverbandes Anhalt. Unterstützt von einer Experimentierklausel im Landesentwicklungsplan und der Gemeindeordnung ging ein neuer Stadttypus in Erprobung.
Die kreisfreie Stadt Dessau-Roßlau und die beiden Landkreise Wittenberg und Anhalt-Bitterfeld fusionierten 2025 zur Stadt Anhalt. Heute leben über 300.000 Einwohner in dem regional organisierten Oberzentrum. Die Stadt funktioniert arbeitsteilig, was auch eine nachhaltige Entwicklung der Infrastruktur und Siedlungsflächen möglich machte: mit dem Industriequartier in Bitterfeld, dem Wissens- und Gesundheitsquartier in Dessau, dem Universitätsquartier in Köthen und dem Museums- und Kirchenquartier in Wittenberg. „Hätte keiner gedacht, alles Anhalter“, denkt Becker sich, als er den Konvent betritt.

