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Obdachlosigkeit Obdachlosigkeit: Absturz nach oben

Von Steffen Könau 26.11.2012, 20:05

Leipzig/MZ. - Bei 20 Grad minus haben sie sich immer Suppe gekocht. "Ich hatte alles an, was ich noch besaß", erinnert sich Nobert Beule. Anschließend ein paar Bier obendrüber gekippt, fertig war der perfekte Tag. Wie er das ausgehalten hat, das weiß der Mann mit dem strubbeligen Drahthaar heute selbst nicht mehr. "18 Monate", rechnet Beule vor, "bin ich damals keinen Tag nüchtern gewesen."

Es ist der Tiefpunkt auf einem Lebensweg, der den kleinen Jungen aus dem Haushalt eines sauerländischen Schäfers einmal ganz nach oben in die noble Vorstandsetage einer Bank führte. Bei dem regionalen Geldhaus macht der kommunikationsfreudige und hochintelligente junge Volkswirt steile Karriere. Träumte er als Kind noch davon, Fußballer oder Schornsteinfeger werden zu dürfen, dreht er nun am großen Rad: Millionenkredite sind zu vergeben oder zu versagen, ein dickes Auto steht vor der Tür und die Karriereleiter reicht so hoch in den Himmel, dass ihr Ende nicht mehr zu sehen ist.

Beule spürt allerdings, dass es da eins geben könnte. "Nachts lag ich oft wach und grübelte über irgendwelche Entscheidungen, die ich treffen musste." Der Junge, als kleiner Bub von seinem Großvater brutal misshandelt, ist keiner der aalglatten Banker ohne Gewissensbisse. "Ich habe immer mit der Macht gehadert, die ich hatte", erinnert sich Beule, "das waren ja immer Arbeitsplätze, die an meinen Entscheidungen hingen."

Ehrgeiz und Druck

Dennoch liebt er seinen Job und er mag seinen Erfolg. Heute noch, wo Norbert Beule in einer winzigen Zwei-Zimmer-Plattenbau-Wohnung im Leipziger Westen wohnt, wird sein Blick ganz weich, wenn er von damals erzählt, als er noch nicht abgestürzt war. "Der Druck war ungeheuer, immer bessere Zahlen zu bringen", sagt er und er klingt dabei wie der Fußballreporter Werner Hansch, "aber ich hatte eben den Ehrgeiz, es zu schaffen."

Und er schafft es ja auch. Bis zu dem Sonntag, als das Telefon neben dem Bett klingelt. Ein Vorstandskollege ist dran, er bitte Beule, sofort in die Bank zu kommen. "Unsere Vorstandschef hatte sich das Leben genommen." Was nun folgt, ist ein Albtraum im Zeitraffer. Zusammen mit anderen Kollegen wird Beule zuerst beurlaubt, dann als Mitwisser verbotener riskanter Geschäfte entlassen. Als der Vater einer Tochter und eines Sohnes auch nach einem Jahr keine neue Stelle gefunden hat, "weil bei meiner Beurteilung überall in der Region die Alarmlichter angingen", fälscht er seine Bewerbungsunterlagen. "Ich bekam nun sofort eine Stelle - und verlor sie nach ein paar Tagen, als die Trickserei aufflog."

Der Mann, der wie in einem schlechten Film weiter jeden Tag im Anzug und mit Aktentasche aus dem Haus geht, um Kinder und Nachbarn eine heile Welt vorzugaukeln, bricht innerlich zusammen. Nun ist er nicht mehr nur arbeitslos, sondern auch vorbestraft. "In unserer Branche ein Todesurteil." Doch wer tot ist, muss wenigstens nichts im Leben mehr fürchten: Beule fälscht also wieder Bewerbungsunterlagen, wieder mit begrenztem Erfolg. Und wieder kommt er vor Gericht und wieder wird er verurteilt. "Ich war zu dieser Zeit sicher nicht mehr bei Sinnen", sagt er heute.

Damals glaubt er, dass es tiefer nicht mehr hinuntergehen kann. Beule rappelt sich auf, findet einen Job als Dozent an einer Volkshochschule in Sachsen, wo er den ostdeutschen Neubürgern Buchhaltung, Rechnungswesen und Marktwirtschaft beibringt. Aller paar Tage pendelt er zwischen Leipzig und seiner Familie in Westfalen.

Eines Abends aber ist Beule früher dran. "Ich habe mich mit der Vorbereitung von Prüfungsunterlagen beeilt und bin doch noch abends nach Hause gefahren statt erst am nächsten Morgen." Vor dem schmucken Eigenheim angekommen, wundert er sich, dass das Garagentor geschlossen ist. Im Schlafzimmer dann der Schock: Seine Frau liegt mit einem anderen im Bett. "Ich habe kein Wort gesagt, bin auf dem Absatz umgekehrt und zurückgefahren." An einer Tankstelle holt er sich eine Flasche Schnaps, er trinkt sie auf der Autobahn aus. "Mehrmals habe ich daran gedacht, einfach vor einen Pfeiler zu fahren und das alles zu beenden."

Am nächsten Morgen, der ein Nachmittag ist, erwacht er in seiner möblierten Bude. Norbert Beule mag nicht mehr denken, er mag nicht mehr hadern. Er beginnt einfach wieder zu trinken.

Als der stämmige kleine Mann das nächste Mal erwacht, steht er vor dem Bahnhof und lacht mit einem halben Dutzend fremder Männer in schmutzigen Klamotten über billige Witze. Beule hat alles verloren. Der Job ist weg, die Wohnung leer, die Briefe mit den Scheidungspapieren hat er nicht einmal geöffnet, auch um die beiden Kinder hat er nicht gekämpft. "Ich hatte morgens meine erste Flasche Bier und abends meine 20.", sagt er, "und die Saufkollegen vom Bahnhof waren meine einzigen Freunde." Wenn der Katzenjammer über das verkorkste Leben kommt, ersäuft er ihn in Alkohol. Wenn die Erinnerungen an seine Familie ihn überfallen, lacht er noch lauter mit den anderen Männern, die ihn nur halb im Scherz den "Philosophen" rufen.

Die Untersten der Unteren nennt Norbert Beule seine Kameraden vom Kiosk heute. "Aber hätte ich sie nicht gehabt, wäre ich vor die Hunde gegangen." So hat er Leidensgenossen, "wir haben uns gegenseitig unser Schicksal vor die Füße gekotzt", sagt er. Mit Alfred, einem aus der Gruppe, verbindet den Ex-Banker schließlich sogar echte Freundschaft. "Ich habe meist geredet, er hat zugehört." Als Alfred in der Straßenbahn überfallen und so verprügelt wird, dass er später an den Folgen stirbt, trinkt Norbert Beule im Abrisshaus sein letztes Bier. Er wiegt gerade mal noch 58 Kilogramm, leidet unter Magengeschwüren und Atemnot. "Der Pfarrer, der Axel unter die Erde gebracht hat, hat mir dann geholfen, in Therapie zu kommen."

Und zum Glauben der Kindertage zurückzufinden. Heute ist ein kleines Eckchen auf einem Schränkchen in Beules Wohnung zum Marienaltar umgestaltet. Mehrfach ist der 63-Jährige nach Lourdes gepilgert, ganz fest glaubt er daran, dort, am traditionellen wundertätigen Wallfahrtsort der Christen, die Heilung einer Freundin miterlebt zu haben.

Seitdem ist Norbert Beule sicher, eine Mission zu haben. Seinen Absturz, den Verlust der Familie, die Weigerung seiner Kinder, Kontakt mit ihm zu haben, all das empfinde er inzwischen nicht mehr als unerklärliche Folge von Schicksalsschlägen, sondern als Teil eines schweren Weges, der ihn zu einem anderen, einem besseren Menschen gemacht habe. Ein "Absturz nach oben", wie er es nennt, denn oben ist, "wo ich keine Macht habe, vor der ich Angst haben muss."

Hilfe für Straßenkinder

Statt zu klagen, dass er heute von 740 Euro Rente leben muss, versucht er, anderen zu helfen, am liebsten denen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Bei Tante E., einem Hilfsprojekt für Straßenkinder in Leipzig, arbeitet er ehrenamtlich mit. "Eigentlich als Sammelfahrer, der Spenden zusammenholt", sagt er. Aber einen wie ihn erkennen die, die ähnlich leben und vor ähnlichen Dämonen fliehen. "Die Kids merken sofort, dass ich genau weiß, wovon ich spreche, wenn es um Alkohol oder das Schlafen im Freien geht." Beule sieht sich dann selbst in den jungen, leeren Gesichtern und es schmerzt ihn, zuzuschauen, "wie 13-Jährige ihr Leben wegwerfen". Also kämpft er, diesmal nicht um sich, sondern um andere. "Jedes Kind, das wir retten können", sagt der Mann, der seine eigenen Kinder verloren hat, "lohnt die Mühe, alles zu geben, was wir haben."