1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Neues Betreuungskonzept: Neues Betreuungskonzept: Platz in Problemfamilie

Neues Betreuungskonzept Neues Betreuungskonzept: Platz in Problemfamilie

Von Alexander Schierholz 18.11.2007, 20:33

Halle/MZ. - Seit Dennis im Heim lebt, geht es Nicole N. besser. Als ihr achtjähriger Sohn noch zu Hause wohnte, trieb er sich häufig rum, prügelte sich auf dem Schulhof, schlug seine Mutter. Die 28-Jährige, arbeitslos seit Jahren, war überfordert, wusste ihm keine Grenzen zu setzen. Weil sie nicht bestimmte, bestimmte der Junge. Wenn im halleschen Jugendamt eine Dienstanweisung vom 3. September umgesetzt worden wäre, wäre Dennis wohl wieder zu Hause. "Aber soweit sind er und seine Mutter noch nicht", warnt Frank Germann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, der den Fall betreut. "Dann würde die Situation wieder eskalieren."

Knapp 320 Kinder und Jugendliche leben in halleschen Heimen, "alle", so steht es in jener Anweisung, sollten in ihre Familien "zurückgeführt" werden, binnen weniger Wochen. Der Grund: Halle muss sparen. "Geht man davon aus, dass 90 Prozent in ihre Familien zurückkehren können, ergibt sich ein Einsparvolumen von 2,18 Millionen Euro", heißt es weiter. Die Empörung in der Öffentlichkeit ist groß. Als Negativbeispiel gerät Halle bundesweit in die Schlagzeilen.

Und plötzlich ist das alles nicht so gemeint. Auf Anordnung seiner Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados (SPD) hat Jugendamtsleiter Lothar Rochau die Dienstanweisung Ende Oktober zurückziehen müssen - um sie zu überarbeiten. Jetzt sitzt Rochau am runden Besprechungstisch in seinem Büro und ringt um Worte. Von einer "unglücklichen Formulierung" spricht er, von einer "Modellrechnung", die nur habe deutlich machen sollen, wieviel Geld gespart werden könnte. Und beteuert: "Um Haushaltskonsolidierung ging es nie."

Im Grundsatz aber hält die Stadt an ihrem Konzept fest: Möglichst viele Kinder sollen aus Heimen wieder raus, stattdessen wird auf ambulante Hilfen und Prävention gesetzt. "Pro-aktive Systeme" haben sie das genannt. "Es geht darum, Hilfen zu entwickeln, bevor etwas passiert", erläutert Klaus Roth von der Sozialberatungsfirma "Start", die das Konzept gemeinsam mit der Spitze des Jugendamtes entwickelt hat.

Der Plan sieht so aus: In den Stadtquartieren setzen sich diverse Akteure - von Kitas über Jugendzentren, Wohnungsgesellschaften und Kirchengemeinden bis hin zu Bildungsträgern und Sportvereinen - regelmäßig zusammen und koordinieren Hilfsangebote für Kinder und Familien. So könnte ein Jugendklub Hausaufgabenhilfe anbieten, eine Kindergärtnerin sich zusätzlich um auffällig gewordene hyperaktive Kinder kümmern.

Wie das funktionieren soll, bleibt Experten und Praktikern indes ein Rätsel. "Das ist so, als ob man nur noch Kondome verteilt und auf Aids-Therapie komplett verzichtet", urteilt Johannes Herwig-Lempp, Professor für Sozialarbeit an der Hochschule Merseburg. "Es geht um Kinder", sagt Frank Germann, "die nicht genügend zu Essen bekommen von ihren Eltern, die keinen regelmäßigen Tagesablauf kennen, die in vermüllten Wohnungen allein gelassen werden, die misshandelt werden oder selber ihre Eltern schlagen." Denen und ihren Familien wolle man mit Kitas, Jugendzentren und Sportvereinen helfen. "Das geht an der Situation dieser Menschen vorbei." Und dass sich damit Geld einsparen lasse, sei nicht belegt.

Wegen der Verknüpfung mit der Haushaltskonsolidierung hält der Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes, Roland Merten, die halleschen Pläne sogar für rechtswidrig. Finanzielle Belange, so der Professor für Sozialpädagogik an der Uni Jena, dürften laut Gesetz keine Rolle spielen bei Entscheidungen über Hilfen zur Erziehung.

Rochau hält dagegen: Am 18. September, da war die Dienstanweisung gerade ein paar Tage draußen, versicherte er per Rundbrief an seine verunsicherten Mitarbeiter, die "Aufgabenerfüllung - im Rahmen gesetzlicher Pflichtleistungen -" stehe "in keinster Weise zur Disposition". Aber, schiebt der Amtschef jetzt nach, die Jugendhilfe müsse "wegkommen von der Reparaturbrigade". Und man dürfe nicht nur die Kinder im Blick haben, sondern müsse auch mit deren Familien arbeiten. Rochau sieht dabei die Heimbetreiber gefordert: "Wer bei uns mitarbeiten will, muss flexibler werden."

Das klingt wie eine Drohung an die Sozialverbände - die von Mitgliedern des städtischen Jugendhilfeausschusses mitunter als "Heim-Mafia" bezeichnet werden, die allein wirtschaftliches Interesse habe. Sven Spier, Referent für Jugendhilfe beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, kontert: "Die Träger bekommen ihre Kosten aus öffentlichen Geldern erstattet. Sie dürfen gar keinen Gewinn machen."

Derweil geht die Zahl der in Heimen betreuten Kinder und Jugendlichen zurück. 1995 verzeichneten die Verbände 488 Fälle in Halle, derzeit sind es rund 320. Dass die ambulanten Angebote zugleich ausgebaut wurden, erkennt auch Träger-Vertreter Germann an: "Es gibt viele gute Ansätze, damit Familien zu Hause zusammenbleiben können." Heimerziehung werde aber nie ganz ersetzt werden können.

Die Namen der Mutter und ihres Sohnes sind geändert.