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Der letzte Sommer der DDR Nächstes Jahr in Budapest - 35 Jahre nach 1989

Vor 35 Jahren brachen die letzten Tage der DDR an. Noch ahnte es niemand, doch es blieb kein Jahr mehr bis zum Ende der SED-Herrschaft. Eine Serie schaut zurück.

Von Steffen Könau Aktualisiert: 15.08.2024, 13:47
Im Frühjahr 1989 kam Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher noch zu einem Privatbesuch nach Halle. Im Sommer war der in der Saalestadt geborene FDP-Politiker dann als Krisenmanager fortwährend in Osteuropa unterwegs.
Im Frühjahr 1989 kam Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher noch zu einem Privatbesuch nach Halle. Im Sommer war der in der Saalestadt geborene FDP-Politiker dann als Krisenmanager fortwährend in Osteuropa unterwegs. Stasi-Repro: Steffen Könau

Halle/MZ. - Es sind stille, heiße und gemächliche Tage in diesem Sommer vor 35 Jahren, auf den ein unruhevoller Herbst und der hoffnungsvolle Frühling des Einheitsjahres 1990 folgen wird. Zu sehen ist davon Mitte Juli noch nichts. Die DDR ist im Normalbetrieb, die Zeitungen melden Planplus in der alljährlichen Ernteschlacht und Höchstleistungen in den volkseigenen Betrieben.

Die Jugendbrigade des „Centrum“-Kaufhauses in Halle-Neustadt kündigt an, künftig auch Überschreitungen von Pausenzeiten mit nur fünf Minuten nicht mehr zu dulden. Im Park von Oberröblingen findet das traditionelle Hähnekrähen statt. Das Mansfeldkombinat landet einen Verkaufsschlager mit der neuen Zweigang-Schlagbohrmaschine. aus der Abteilung Konsumgüterproduktion.

Und „dank der großzügigen Förderung und Unterstützung durch die staatlichen Organe“ konnten im Bezirk Halle allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres „203 neue Gewerbegenehmigungen für private Handwerker erteilt werden, darunter befinden sich elf Bäckermeister, neun Damen- und Herrenmaßschneider sowie acht Klempner und Installateure“.

Die Krise macht Urlaub

Die Krise, die die Arbeiter- und Bauernrepublik nach den gefälschten Wahlen im März geschüttelt hatte, sie scheint Urlaub zu machen wie alle im Land. Stolz verweisen die DDR-Medien darauf, dass sich US-Präsident George Bush für die Glückwünsche von Staatsratschef Erich Honecker um amerikanischen Nationalfeiertag bedankt habe.

Honecker, wegen einer angeblichen Gallenkolik zwei Wochen zuvor noch vorzeitig vom Ostblock-Gipeltreffen in Bukarest abgereist, gratuliert auch den Sandinisten in Nicaragua zum 10. Jahrestag ihrer Revolution und den Kommunisten Griechenlands zum 75. Geburtstag ihrer Partei. Die Botschaft dabei: Honecker ist auf dem Damm, das Land in festen Händen.

Ein Irrtum. Nach der Rückkehr des 76 Jahre alten SED-Generalsekretäres, der Bukarest urplötzlich zusammengebrochen war, hatten ihm seine Ärzte im Regierungskrankenhaus in Berlin-Buch die Gallenblase und einen Abschnitt des Dickdarms entfernt.

Schlimmer aber noch: Während der OP entdecken die Spezialisten einen Nierentumor. Honeckers Zustand ist laut Krankenbericht beunruhigend: Sein Blutdruck sackt immer wieder ab, er zeigt in den Folgetagen Anzeichen von Verwirrtheit und Desorientierung und anfangs wagt es niemand, ihm die Wahrheit über seinen Gesundheitszustand mitzuteilen.

Führungslose Republik

Die DDR ist im Grunde führungslos, und das in einer Situation, bei der Blitze den nahenden Donner schon ankündigen. Der große Bruder Sowjetunion kämpft mit Streiks und Aufständen in Abchasien. In Bergkarabach terrorisieren islamistische Extremisten Armenier und die Polizei. Michael Gorbatschow sieht sich genötigt, die G7-Staaten um stärkere Zusammenarbeit zu bitten, „um die Perestroika zu unterstützen.“

Im benachbarten Polen empfängt Staatschef Jaruzelski USA-Präsident George Bush, der wirtschaftliche Unterstützung ankündigt, dafür aber „eine weitere Veränderung der inneren Verhältnisse“ verlangt. Wenig später verhandelt Jaruzelski schon mit Oppositionsführer Lech Wałesa über eine gemeinsame Regierungsbildung.

MZ-Serie: Der letzte Sommer der DDR

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Aus Sicht des SED-Politbüros brennt es überall und die Spielräume werden enger. Der westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher etwa besucht Prag. Und trifft dort demonstrativ den Bürgerrechtler Václav Havel, der im Februar noch verhaftet worden war.

In Prag beginnt in diesen Tagen auch das nächste, entscheidende Kapitel der Abschiedsgeschichte der DDR: Eine Handvoll DDR-Bürger haben sich in die Prager Botschaft geflüchtet. Sie verlangen, in die Bundesrepublik ausreisen zu dürfen.