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Montagsdemos in Magdeburg Montagsdemos in Magdeburg: Einsam in der kalten Nacht

Von Steffen Reichert 11.04.2005, 19:02

Magdeburg/MZ. - Es ist kalt geworden in Deutschland. Der Nebel liegt noch immer über dem Domplatz in Magdeburg, das Thermometer zeigt an diesem Montagmorgen wenig über Null. Andreas Ehrholdt krabbelt aus dem Eskimozelt, das er unmittelbar vor dem Eingang zur Staatskanzlei aufgebaut hat. "Morjn", knurrt er und holt eine Decke, die er über den Plastikstuhl legt. "So kalt ist es doch gar nicht."

Rein vorsorglich hat er aber doch noch zwei Shirts unter den Fleecepullover gezogen und das Campingbett mit dicken Decken ausgelegt. Bloß die Badelatschen über den einst weißen Frotteesocken vermitteln das Gefühl des nahenden Frühling: "Tagsüber ist es hier richtig schön", sagt der 41-Jährige und blickt auf die Angestellten und Beamten, die in geschäftiger Eile in die Gebäude des Regierungsviertels eilen und ihn nicht beachten.

Nur Horst ist gekommen, um die Einsamkeit zu durchbrechen. Horst, der aus Angst vor dem Chef seiner Frau den Namen nicht nennen will, hat eine Thermoskanne mit frischem Kaffee und zwei Stücken Sahnetorte gebracht.

Seit einer Woche nun campiert der Wieder-Erfinder der Montagsdemos vom vergangenen Sommer auf dem Domplatz. Dort, wo der Protest 1989 schon einmal begann. Und Ehrholdt, der Arbeitslose aus Woltersdorf, war der Wiederentdecker eines mächtigen Wortes. Ein paar Handzettel reichten aus, und binnen drei Wochen kamen am Montagabend mehr als 15 000 in die Landeshauptstadt. "Hartz IV muss weg", hieß und heißt seine Forderung, und Andreas Ehrholdt lässt keine Chance aus, es zu wiederholen: "Man entmündigt die Bürger", schimpft der Arbeitslose, der aufzählt, dass es allein in Magdeburg 40 000 Bedarfsgemeinschaften - also Lebenspartnerschaften und Ehen - gebe. Alles nur Hartz IV.

Auch Ehrholdt fühlt sich sein Leben lang schon entmündigt und hintergangen. Er verpflichtet sich in den Siebzigern zu zehn Jahren Armee. Als er zum ersten Mal eine Kaserne sieht, macht er einen Rückzieher. Er wird Transportarbeiter bei der Reichsbahn, und als sich im Sommer 1989 die Chance bietet, über Ungarn in den Westen zu gelangen, ist Ehrholdt dabei. Über Wien und Nürnberg wird er nach Nordrhein-Westfalen verschickt. Aber ein halbes Jahr später ist er wieder bei den Eltern, weil die Mauer zwischen Ost und West nun gefallen ist. Den Job bei der Reichsbahn will er nicht mehr, Umschulung, Bausparversicherung, ein bisschen Helfen auf dem Bau - Andreas Ehrholdt kriegt nichts mehr auf die Reihe. Auch SED, CDU und Schill-Partei sind nur kleine Zäsuren in seiner Biografie. Seit Januar hat er 331 Euro Arbeitslosengeld zwei. Und statt des ISDN-Anschlusses hat er nur noch ein Handy.

So groß ist schließlich Ehrholdts Wut, so bitter seine Stimmung, dass seine erste Anmeldung für eine Demonstration zum Selbstläufer wird. Tausende laufen im Sommer 2004 mit, streckenweise bis zu 80 000 in ganz Deutschland. Dass die Kameras und Reporter aus der halben Welt bei ihm erscheinen, das hat ihm schon gefallen. Aber warum diese größte Protestbewegung nach 1990 so schnell wieder erstarrt ist? Ehrholdt hat keine Antwort. "Ich weiß einfach nicht, warum die Leute weggeblieben sind." Aber er hat eine Ahnung. "Diese ganzen Gruppen haben alle was Unterschiedliches gefordert."

Reden wollte er jedenfalls nicht mit der Politik. Als ihn SPD-Bundesminister Manfred Stolpe am Rande einer Talkshow unter vier Augen sprechen will, lehnt er ab: "Sonst heißt es noch, ich bin gekauft." Deshalb hat er jetzt seine Forderungen reduziert. "Hartz IV muss weg". Oder wenigstens Nachbesserungen müssen her. Die, die es schon gibt, reichen ihm nicht. Deshalb will er solange auf dem Domplatz zelten, bis die Forderungen erfüllt sind. Nur am 29. April muss er das Gelände verlassen. Mercedes hatte schon frühzeitig eine Veranstaltung angemeldet.

So sitzt er also auf dem Domplatz und wartet auf die abendlichen Montagsdemonstranten. Werden es 50 oder 100? Wer weiß, das Wetter ist schlecht. Es ist kalt geworden in Deutschland.