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Tödlicher ICE-Unfall Tödlicher ICE-Unfall bei Bülzig: Der ungesühnte Tod - Hinterbliebene verklagt die Deutsche Bahn - Schuldfrage ungeklärt

Von Christian Schafmeister 10.12.2018, 08:58
Nach dem Unfall steht der Zug am Abend des 10. Dezember 2016 auf einer Brücke in Bülzig. Kurz zuvor hatte der ICE zwei Techniker im Gleis erfasst und getötet. 
Nach dem Unfall steht der Zug am Abend des 10. Dezember 2016 auf einer Brücke in Bülzig. Kurz zuvor hatte der ICE zwei Techniker im Gleis erfasst und getötet.  Thomas Klitzsch/Archiv

Bülzig - Der Tod kommt an diesem Dezemberabend 2016 von hinten. Unbemerkt, lautlos, aber rasend schnell. Mit Tempo 160 erfasst der ICE 1009 mit 320 Menschen an Bord auf seiner Fahrt nach Berlin bei Bülzig (Landkreis Wittenberg) zwei Techniker der Deutschen Bahn im Gleis.

Die beiden Männer, die eine Störung beheben sollen, sind sofort tot. Was den Fall besonders tragisch macht: Der ICE wird an diesem 10. Dezember kurz vor 20 Uhr auf das Gegengleis geleitet, damit er eine Regionalbahn überholen kann. Die Techniker im Gleis wissen davon nichts, niemand hat sie informiert. Ein tödliches Versäumnis.

Wer dafür verantwortlich ist, diese Frage bleibt auch heute, am zweiten Jahrestag des Unglücks, unbeantwortet. Die Ermittlungen - von der Staatsanwaltschaft Dessau zwischenzeitlich sogar schon eingestellt - ziehen sich in die Länge. Noch immer gibt es keinen Abschlussbericht. Und die Dessauer Ermittler geben sich äußerst schmallippig. 

Das Ermittlungsverfahren sei „kein öffentliches Verfahren, so dass die Ermittlungsschritte und deren Ergebnisse auch nicht als Zwischenergebnis mitgeteilt werden müssen und würden“, teilte Behördensprecher Olaf Braun der MZ mit. Unabhängig davon lägen „die Akten derzeit hier nicht vor“, weshalb schon aus diesem Grund Anfragen nicht beantwortet werden können.

Bahnunglück bei Bülzig: Bisher nur Anhörbögen versandt

Mutmaßlich liegen die Akten seit März 2018 bei der Bundespolizei. Damals hatte die Staatsanwaltschaft überraschend weitere Ermittlungen angeordnet. Grund dafür: Wichtige Zeugen wie Lokführer und Fahrdienstleiter waren damals - mehr als ein Jahr nach dem Unfall - noch gar nicht ausführlich vernommen worden. „Die Akten werden der Bundespolizeiinspektion Magdeburg erneut zugeleitet, um entsprechende ausführliche Zeugenbefragungen vornehmen zu lassen“, erklärte Staatsanwaltssprecher Frank Pieper damals. Bisher seien „nur kurze Befragungen durchgeführt beziehungsweise Anhörbogen versandt worden“.

Den Anstoß für die Wiederaufnahme der Ermittlungen hatte Stefan Kersten gegeben, Anwalt der Witwe eines der Techniker. Kersten hatte in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft schon damals auf erhebliche Versäumnisse hingewiesen und daher auf weitere Ermittlungen gedrängt. „Es ist bisher gegen einige mögliche Beteiligte nicht hinreichend ermittelt worden“, sagte der Anwalt der MZ.

Zwei Jahre nach tödlichem ICE-Unglück - wichtige Zeugen noch nicht ausführlich vernommen

Heute, rund neun Monate später, zieht Kersten ein ernüchterndes Fazit. „Mir sind seither keine neuen Ermittlungsschritte bekannt.“ Offenbar habe die Bundespolizei seit März nichts unternommen, so sein Schluss. „Mir ist nicht einmal bekannt, ob die Staatsanwaltschaft mittlerweile Schlüsselfiguren wie den Fahrdienstleiter namentlich ermittelt hat.“ Dieser hat nach MZ-Informationen noch 20 Minuten vor dem tödlichen Unfall mit einem der beiden ahnungslosen Techniker telefoniert. 

Für seine Mandantin hat Kersten die Bahn nun auf Schmerzensgeld verklagt. Die Witwe könne „mit dem Trauerprozess nicht abschließen, weil die Ermittlungen zum Tode ihres Mannes bis heute andauern und sie keinerlei Informationen und Antworten dazu erhält, wie es zum Tod ihres Mannes kommen konnte“, heißt es in der Klage.

ICE-Unfall: Warum waren keine Sicherheitsposten im Einsatz?

Wann es Antworten gibt, ist völlig unklar, die Liste der noch offenen Fragen ist lang. Von wem etwa ist der ICE auf das Gegengleis geleitet worden? Hätte diese Person von den Arbeiten der Techniker wissen müssen? Zudem bleibt unklar, warum keine Sicherungsposten im Einsatz waren. Die Aussagen der Ermittler dazu sind widersprüchlich.

Im März 2018 erklärte die Staatsanwaltschaft, die Techniker hätten „selbst entschieden, im Selbstsicherungsverfahren zu arbeiten“, also ohne technische Hilfsmittel oder zusätzliche Streckenposten. Zwei Monate zuvor hieß es noch, die Männer seien „mit der Eigensicherung beauftragt worden“. Die Deutsche Bahn wiederum, so Kersten, habe ihm bisher die einschlägige, interne Unfallverhütungsrichtlinie nicht zur Verfügung gestellt. Entsprechende Anfragen blieben unbeantwortet.

Unbeantwortet blieben bisher auch mehrere MZ-Anfragen bei der Staatsanwaltschaft. Im Oktober 2018 hieß es, die Akten seien von der Polizei „noch nicht wieder übergeben worden“. Im September 2018 erklärte Sprecher Pieper: Entsprechende Fragen könne er „aufgrund von urlaubsbedingten Abwesenheiten erst nach dem 8. Oktober 2018 beantworten.“ Schon im August hieß es fast wortgleich: „Ihre Fragen kann ich Ihnen aufgrund der Urlaubsabwesenheit der sachbearbeitenden Staatsanwältin nicht beantworten.“

Begründung laufende Ermittlungen: Alle Akteure schweigen

Doch auch alle anderen Stellen schweigen. Die Deutsche Bahn verweist zur Begründung seit zwei Jahren auf die laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung erklärte im September 2018, sie führe in dem Fall keine Untersuchungen durch, und die Bundespolizei wiederum verweist auf die Staatsanwaltschaft.

Für Anwalt Kersten ist aber auch ohne weitere Auskünfte und ohne Unfallverhütungsvorschrift der Bahn klar: Die beiden Arbeiter hätten niemals in Eigensicherung arbeiten dürfen. Aus seiner Sicht sei das nur möglich, wenn Arbeiter einen nahenden Zug mit ausreichendem Sicherheitsabstand erkennen können. „Das war hier schon deshalb nicht möglich, weil es dunkel war und die Arbeiten in einer Kurve stattfanden. Man hätte die Techniker dort nie alleine hinschicken dürfen.“   (mz)