Dreckschweinfest in Hergisdorf Dreckschweinfest in Hergisdorf: Wenn sich junge Männer in Schlammkuhlen suhlen

Hergisdorf - Es geht im hohen Bogen in den Schlamm. Aber so richtig, dass es platscht und klatscht. Kräftige Kerle suhlen sich mitten im Wald in einer Kuhle voll mit trüber Lehmbrühe. Freiwillig stürzen sie sich immer wieder hinein, bis selbst hinter den Ohren jeder Zentimeter von der grau-braunen Pampe bedeckt ist.
Dankbar winkend und sich immer wieder verbeugend nehmen Paul, Marc und Jens das begeisterte Johlen und Rufen, den anerkennenden Beifall der Zuschauer entgegen. Endlich geschafft: Das Trio ist auf diese ungewöhnliche Weise getauft. Nun sind die Jünglinge echte Dreckschweine - und können sich ausgiebig feiern lassen.
Im Mansfelder Grund (Landkreis Mansfeld-Südharz) ist dieses Ereignis so etwas wie der Höhepunkt des Jahres. Als uralte heidnische Sitte, die den Winter endgültig vertreibt und den Sommer einläutet, löst das Dreckschwein-Fest in den ehemaligen Bergbau-Siedlungen im Schatten der Halden einen ungeahnten Schwung aus. Auf unverwechselbare Weise trifft das auf die Hergisdorfer zu.
Angeführt von ihrem Amtmann Jürgen Colawo lassen sie nicht locker, damit es die Tradition der Dreckschweine auf die Unesco-Liste des besonders schützenswerten Brauchtums schafft. Damit würden sie die Eisleber Wiese und andere, die mit ihren Bewerbungen schon gescheitert sind, in den Schatten stellen. Bis zum Herbst jedenfalls soll die entsprechende Dokumentation, die die nationale Auswahlkommission überzeugen muss, fertig sein. Den Hergisdorfern wäre das Zertifikat der Vereinten Nationen mehr wert als jeder andere Titel.
Und der Mittfünfziger, der selbst schon ein Vierteljahrhundert ein Dreckschwein ist, sagt auch warum. Einerseits gehe es um die Anerkennung einer wahrlich außergewöhnlichen Gepflogenheit, die man deutschlandweit nur hier im südlichen Sachsen-Anhalt antreffen könne. Andererseits, - und das ist nach den Worten des Elektromeisters eigentlich wichtiger: „Der Zusammenhalt zwischen den Dreckschweinen ist absolut einmalig, überdauert schlechte und gute Zeiten.“
Gegenseitige Hilfe, wo es nur möglich ist, prägen eine ganze Woche mit Maskerade, Spiel und Tanz. Schon der lange Festzug, der über sechs Kilometer vom Dorfplatz zum erdigen Taufbecken führt, zeigt das. Wie mit durchaus bescheidenen Mitteln einfallsreiche Pfingstnummern entstehen, da kann sich manche große Karnevalsgesellschaft etwas abschauen. Der Blasmusik folgen beispielsweise die ehrenamtlichen Mitarbeiter der örtlichen „Zeppelinwerft“. Wenn es nach ihrer guten Stimmung geht, hebt das von ihnen geschaffene, tonnenschwere graue Ungeheuer gleich ab.
Dreckschweinfest: Zu Pfingsten vertreibt die Hergisdorf den Winter
Gleich dahinter lassen sich Dreckschweine älterer Jahrgänge in rosa Kostümen in einem Sänftenwagen kutschieren. Wie sich Hergisdorfer das Himmelreich vorstellen, zeigt ein mit Wattewolken geschmücktes Mobil nebst gefülltem Suppenkessel und Bierkasten. Dazwischen tanzt ein schräger Vogel, zweieinhalb Meter groß mit knallbuntem Gefieder aus eingefärbten MZ-Ausgaben. In dem eigenhändig gefertigten Flügelkleid steckt der 30-jährige Mario Kotarski - an normalen Tagen ein Beamter, wie er sagt.
Mit seiner heutigen Aufmachung als Kevin setzt er jedoch erst einmal die Reihe der von den Dreckschweinen bereits in den Jahren zuvor adaptierten Prominenten würdig fort: Asterix und Obelix, Bart Simpson und selbst King Kong. Im Grunde seien diese Stars damit alle Hergisdorfer geworden, scherzt der 85-jährige Waldemar Becker aus der Bahnhofsstraße. Und Zuzug könne man gut gebrauchen, nachdem die Einwohnerzahl mit dem Niedergang der Schächte und Hütten stark gesunken sei.
Der Ruf nach jungen Leuten verhallt offensichtlich nicht ungehört - zumindest wenn es um das Dreckschweinfest geht. Hergisdorfer, die aus beruflichen Gründen die Region verlassen haben, kehren Pfingsten möglichst nach Hause zurück. Ob Lehrling oder Student oder auch ganze Familien, für viele der Fortgezogenen ist die Taufe der Dreckschweine ein fester Termin im Jahreskalender. „Anderswo reisen die Kinder zu Weihnachten nach Hause, hier passiert das zu Pfingsten“, sagt Rentner Hartmut Böttger.
Zeremonie an der Drecksuhle: DDR machte Druck gegen das „unsozialistisches Brauchtum“
Gar nicht erst weg will der 13-jährige Adrian Höhle. Sein Motto: „Wer nicht mitmacht, verpasst was.“ Der Schüler ist einer der geschicktesten Läufer, die mit lautem Peitschenknall die Zeremonie an der Drecksuhle begleiten. Drei Meter ist das geflochtene Hanfseil lang, dass der mit einem Bänderhut geschmückte Junge dazu rasant durch die Luft schwingt. Ist es da ein Wunder, dass sein Geburtstag ausgerechnet auf Pfingsten fällt?
Die beste Position, um das Spektakel zu erleben, besetzt Karin Hinkelthein. „Seit 70 Jahren ist das mein Stammplatz, hier auf dem Baumstamm.“ Nur ganze fünfmal ist die Hergisdorferin leer ausgegangen. In der Zeit des Mauerbaus habe die SED, so berichtet die Chronik, mächtig Druck gegen dieses angeblich unsozialistische Brauchtum gemacht. Wie sich zeigt, ein vergeblicher Versuch.
„Wir haben schon unseren eigenen Kopf, immer noch“, sagt Dreckschwein-Amtmann Colawo, der als Thomas Müntzer verkleidet das Treiben leitet. Bei soviel Selbstbewusstsein ist es natürlich kein Zufall, dass dem rebellischen Bauernführer jemand zur Seite steht, der ihm das Wasser reichen kann: der Reformator höchst selbst in Gestalt des Bauhandwerkers Jürgen Böttge.
Im Unterschied zur Überlieferung, die die historischen Figuren als Widersacher zeigt, trinken die beiden hier gemeinsam Bier und lassen sich deftig geräucherte Schweinestücke schmecken. Acht Fässer, 300 Braten-Portionen und eine dampfende Feldküche, randvoll mit Erbsensuppe - Colawo alias Müntzer fordert auf, sich zu stärken. Das Dreckschweinfest dauere noch lange. „Greift zu, es ist reichlich da, von allem.“ (mz)