Der scheue Dauergast Der scheue Dauergast: Rätsel um Kraniche am Stausee bei Kelbra

Kelbra - Kurzer Blickkontakt aus dem Unterholz. Im nächsten Moment dreht sich der graue Vogelkopf weg. Der Hals biegt sich wie ein Bogen. Einige kurze Schritte - kräftiger Flügelschlag und ab. So schnell wie ein Auto nach dem Ampelstopp.
Erst weit über dem Wasser, gut 50 Meter hoch und in völliger Sicherheit, beginnt der Kranich zu segeln. Offenbar ist er ein sehr scheuer Gast, aber nicht allein am Helme-Stausee in Kelbra (Mansfeld-Südharz). Mit ihm übernachten noch weitere 2 500 Artgenossen hier im Schatten des Kyffhäuser, so viele wie noch nie um diese Jahreszeit.
Ortswechsel. 47 Stufen geht es über eine Wendeltreppe in die Höhe. Dann bietet sich ein weiter Blick in die heile Welt dieser großen Vögel. Das Dach einer ehemaligen Trafo-Station am Ortsrand von Kelbra erweist sich als idealer Aussichtspunkt. Ein Fernglas ist hilfreich, aber nicht unbedingt erforderlich.
Warum wollen so viele Kraniche erstmals und ausgerechnet hier in Sachsen-Anhalt überwintern?
Die Morgensonne bricht durch die Wolken. Allmählich lichtet sich der Nebel. Nun sind einige der Kraniche am Ufer auszumachen. Sie stehen im Wasser, das an dieser Stelle vielleicht einen knappen halben Meter tief ist.
„Die meisten Kraniche sind bereits auf Futtersuche, irgendwo auf den Stoppelfeldern ringsum“, sagt Ingenieur Josef Ritter. Seit dem frühen Morgen ist der Hobby-Ornithologe, den ein gefütterter grüner Lodenmantel wärmt, im Revier unterwegs. „Ich habe gesehen, wie sie aufgewacht sind, wie sie ihr Gefieder geschüttelt haben, wie sie sich in der Luft formiert haben.“
Der Mittfünfziger aus Chur in der Schweiz, die leider weit abseits der Kranich-Flugrouten liege, kommt ins Schwärmen. „Ein fantastisches Erlebnis.“ Seine Freunde vom Arbeitskreis für Großvögel sollten staunen, wenn er über diese urwüchsige Region im Osten berichten wird.
Jetzt in seinem Urlaub ist der Mann aus Graubünden aber erst einmal einem Rätsel auf der Spur: Warum wollen so viele Kraniche erstmals und ausgerechnet hier in Sachsen-Anhalt überwintern? Zwar haben beinahe 50.000 Exemplare in diesem Herbst in der Goldenen Aue, wie man diesen Landstrich auch nennt, gerastet. Aber fünf Prozent der Vögel verzichten eben auf den Weiterzug nach Spanien und Afrika, wo sie beispielsweise Äthiopien anfliegen.
Kraniche können im Schwarm bis 2.000 Kilometer nonstop fliegen
Einige Gegenden sind unter Kranichen wohl in Verruf geraten. In nordafrikanischen Ländern liegt es am sich dort rasant ausdehnenden industriellen Gartenbau, der bisherige Rückzugsgebiete der Vögel besetzt. Und auf der iberischen Halbinsel tobt ein Nahrungsstreit um Eicheln, die auch halbwilden Schweinen schmecken. Obwohl die Vögel im Schwarm bis 2.000 Kilometer nonstop fliegen können, bleibt es doch eine extreme Kraftanstrengung. Wer nimmt so etwas auf sich, wenn es nicht unbedingt sein muss?
„Anfangs dachte ich, die Vögel wollen uns Ornithologen narren. Aber mir scheint, es ist mehr als eine Laune der Natur.“ Im Scherz behauptet der unterhaltsame Ritter zwar, dass der Kranich nach 1978 nun endlich mal wieder Vogel des Jahres werden wolle. Ernsthaft gibt der Schweizer dagegen zu bedenken, ob eine Fütterung der Vögel wirklich angeraten sei. Landwirte und Naturschützer in Sachsen-Anhalt und Thüringen verfolgen zuweilen damit die Absicht, die Tiere von den Äckern und Saaten fernzuhalten. „So eine Grundversorgung macht bequem.“
Das sei bei Kranichen genau so wie bei Menschen, glaube er und setzt seine vogelkundliche Exkursion rund um das 600 Hektar große Gewässer fort. Am Abend, wenn die Kraniche zum Übernachten an den See zurückkehren, will er wieder auf den Turm unterhalb der Barbarossa-Suchtklinik steigen.
Sachsen-Anhalts oberster ehrenamtlicher Kranich-Schützer hält es für möglich, dass die verbliebenen 2.500 Tiere bei starken Frösten doch noch zum Flug nach Süden aufbrechen. Der Biologe Axel Schonert, seit vielen Jahren ein ausgewiesener Kenner der Vogel-Szene im Land, macht die Reise-Unlust am guten Futterangebot in Mansfeld-Südharz fest. „Der ausgedehnte Maisanbau trägt seinen Teil dazu bei.“
Entwicklung der Kraniche muss langfristig beobachtet werden
Die Körnerreste auf den Stoppelfeldern rund um das Vogelschutzgebiet deckten den Energiebedarf der Kraniche sehr gut, zumal der Allesfresser zwischendurch auch die eine oder andere Maus nicht verschmähe.
Nach Ansicht von Schonert müsse die Entwicklung langfristig beobachtet werden. „Auffällig ist, dass die Kraniche ihr Verhalten seit ungefähr 30 Jahren deutlich ändern.“ Genau so lange würden die Wetterkundler schon über den Klimawandel reden. Der Zusammenhang werde durch drei wichtige Beobachtungen gestützt: Kraniche legen immer kürzere Wege bis ins Winterquartier zurück. Sie starten immer später zum Vogelzug. Und mehr und mehr Tiere überwintern gleich an Zwischenstationen. „Der Stausee in Kelbra dient Kranichen als letztes Sprungbrett in den Süden, doch nicht alle springen. “
Gut möglich, dass da eine gravierende Verhaltensänderung im Gange sei. Daran habe niemand gedacht, als 1985 die ersten Kraniche in der Region gelandet sind. Inzwischen würden die Tiere immer flexibler, zum Beispiel in punkto Nestbau. Einst topsicher im Schilf versteckt, zieht es die Paare inzwischen sogar in verlassene Burgruinen. Bis zu 600 Brutplätze sind landesweit nachgewiesen. Tendenz steigend, so an der Elbe im Landkreis Wittenberg und am Goitzsche-See in Bitterfeld.
Wenige Jungtiere mit Sendern und Erkennungsringen ausgestattet
Erst vier Jungtiere habe man mit Erkennungsringen und Sendern ausstatten können, so Schonert. Den Daten zufolge halten sich diese Kraniche immer noch in Sachsen-Anhalt auf, wo sie diverse Schlafplätze testeten. „Es sieht so aus, als würden auch sie im Lande überwintern wollen.“ Vor diesem Hintergrund spricht sich Schonert nachdrücklich für mehr finanzielle Mittel aus, um Lücken im Wissen über Kraniche schließen zu können.
Kranich-Ranger zum Beispiel könnten eine wichtige Arbeit leisten, einerseits bei der Aufklärung von Besuchern, andererseits bei Vogelbeobachtungen. Das Land Thüringen bezahlt fünf solcher Stellen. „Leider tut sich da in Sachsen-Anhalt bislang so gut wie gar nichts.“ Schonert nennt das offen eine vertane Chance, zumal es sich vor allem in Mecklenburg-Vorpommern gezeigt habe, welche große touristische Anziehungskraft mit Kranich-Touren zu erzeugen sei.
In Kelbra steht man damit noch am Anfang. Aber vielleicht entschließt sich der Ort zunächst einmal sein Wappentier auszuwechseln. Bislang ist es nämlich ein Kalb. Es könnte besser ein Kranich sein. (mz)