Künstliche Befruchtung Künstliche Befruchtung: Ein Baby wird 25
Halle (Saale)/MZ. - Das Hallo ist riesig, denn Margit, von ihren Eltern begleitet, wird von ihren vielen weiteren Vätern und Müttern erwartet: Mediziner, Krankenschwestern, Labormitarbeiter - ohne die sie vielleicht gar nicht auf der Welt wäre.
Geduldig lässt die hübsche Blondine die stürmische Begrüßung über sich ergehen und sagt dabei - nicht das einzige Mal an diesem Abend - "Ich habe mich nie als etwas Besonderes gefühlt. Das ich so ,enstanden' bin, war für mich immer eine Selbstverständlichkeit." Ob sie weiß, dass sie damit fast dieselbe Wortwahl trifft wie Louise Brown, das erste Retortenbaby der Welt, die ebenfalls nie als außergewöhnlich gelten wollte?
Und doch, "das war schon eine aufregende Zeit damals", sagt Mutter Roswitha. Vor 25 Jahren um diese Zeit war sie schwanger - Anlass für das Treffen der Familie mit denen, die sich seinerzeit im Universitätsklinikum Halle-Kröllwitz darum bemühten, ihr und ihrem Mann den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen. "Was mir am meisten von meiner Schwangerschaft im Gedächtnis geblieben ist, ist die Tatsache, dass ich fast die ganze Zeit über krankgeschrieben war", sagt Roswitha Göbel heute. Ihr Betrieb, damals war sie Arbeitsökonomin in den Ziegelwerken Halle, nahm es gelassen hin.
Dass diese Schwangerschaft gelingt, das war nicht nur ihr innigster Wunsch. Ein ganzes Team - 1985 noch Kollektiv genannt - fieberte mit und ging auf Nummer sicher: Fast die gesamten neun Monate nach dem Einsetzen der unter dem Mikroskop befruchteten Eizellen verbrachte die heute 53-Jährige im Klinikum Kröllwitz.
1985 war hier eine Arbeitsgruppe gebildet worden. Nachdem im Sommer 1978 das erste Retortenbaby der Welt in Großbritannien per Kaiserschnitt das Licht der Welt erblickt hatte, begann sich die Methode durchzusetzen. Bernd Seifert, seit 1975 Oberarzt in Kröllwitz, überraschte seine Kollegen eines Tages mit der Feststellung: "Das können wir auch!" Was sich wie ein flotter Spruch anhörte, war ernst gemeint. Petra Kaltwaßer, heute Oberärztin in Kröllwitz sagt: "Bernd Seifert war einfach ein Visionär. Er brachte das so entwaffnend vor, dass es uns alle mitgerissen hat." Ohne die Hartnäckigkeit des damals 42-Jährigen, sind sich alle einig, wäre es nicht geschafft worden, noch zu DDR-Zeiten ein Kinderwunschzentrum am Klinikum zu etablieren.
"Die Forschung war seinerzeit auf Berlin zentriert", sagt Bernd Seifert mit Blick auf die Anfänge. Schon seit Ende der 70er Jahre hatte er sich mit dem Thema Kinderwunschbehandlung beschäftigt, an der Frauenklinik in Halle mit dem Biochemiker Ewald Seliger ein Labor aufgebaut, um kinderlosen Paaren zu helfen. "Mit mehr Unterstützung wären wir eher am Ball gewesen", schätzt er heute ein und erinnert sich gern daran, wie seine junge Mannschaft mit Feuereifer die ehrgeizigen Pläne umsetzte. Von der Gründung der Arbeitsgruppe bis zum ersten Baby Margit verging gerade mal ein Jahr. Die Kinderwunschbehandlung hat Bernd Seifert, heute Chef eines Zentrums dafür in Regensburg, übrigens nie wieder losgelassen. Über 10 000 Babys dürften inzwischen seiner Arbeit ihr Leben verdanken.
Dabei war es nicht von Anfang an selbstverständlich, zur Reagenzglasbefruchtung zu greifen. Während Frauen, denen es bisher unmöglich erschien schwanger zu werden, endlich von einer Familie träumten, warnten Kritiker der Methode vor Komplikationen und Missbildungen und rieten zur Vorsicht.
Die hallesche Arbeitsgruppe kämpfte indes vornehmlich mit Problemen bei der Beschaffung von Geräten und Chemikalien. "Eines Tages kam unsere Biochemikerin Verona Blumenauer mit der Hiobsbotschaft, dass das Spezialgas für den Brutschrank nur noch für sechs bis acht Stunden reichen würde", erinnert sich Petra Kaltwaßer an nur ein Beispiel. "Damit die befruchteten Eizellen, die dort lagerten, weiter gedeihen konnten, musste sofort Nachschub beschafft werden." Heute kein Problem, damals fast unlösbar.
Es klingt wie ein Spaß der Olsenbande und war doch bitterer Ernst: Gebraucht wurden ein Trabant, eine Kiste Ketchup und ein "Bärenfell". Der Trabant gehörte dem damaligen Frauenklinik-Chef Kurt Rothe, gefahren wurde er mit ausgebauten Sitzen und einer leeren Gasflasche - verhüllt mit dem Fell - von Petra Kaltwaßer nach Berlin. Die Kiste Ketchup war das "Dankeschön" für eine Sekretärin im VEB Technische Gase. Mit der gefüllten Gasflasche ging es im Höllentempo - sofern davon beim Trabi die Rede sein kann - zurück nach Halle. "Ich dachte nur: Bei einer Notbremsung schießt die Gasflasche wie ein Torpedo aus dem Radkasten", lacht Petra Kaltwaßer noch heute.
Schnurren dieser Art werden an diesem Abend viele erzählt, der Ernst bleibt außen vor. Dabei ist die Behandlung für die Paare kein Spaziergang. Die hormonelle Stimulation vor der Eizellentnahme geht mit manchen Beschwerden einher, dazu kommt der enorme psychische Druck, ob auch wirklich genügend Eizellen heranreifen, ob sie - befruchtet wieder eingesetzt - auch wirklich zu einer Schwangerschaft führen. An die beteiligten Männer geht auch schon mal ein gönnerhafter Kommentar aus dem Bekanntenkreis, obwohl der 55-jährige Zimmerermeister Ronald Göbel "so etwas nie gehört" hat und damit wohl auch gelassen umgegangen wäre. Im Örtchen Gröbers im Saalekreis, wo die Göbels bis heute wohnen, wusste zwar jeder von der Behandlung und Margits besonderer Zeugung - ein Thema war das dennoch nie.
"Wie gut wir vorbereitet waren, sieht man daran, dass wir mit Margit schon in der ersten Serie einen Erfolg hatten", sagt Petra Kaltwaßer heute. Die Voraussetzungen bei den Göbels, die damals schon einen siebenjährigen Sohn hatten, seien günstig gewesen. Dennoch: Das erste Retortenbaby in Halle - das war eine Sensation! Und dieses Gefühl hielt noch eine ganze Weile an, versichern alle Beteiligten. Die Bindungen untereinander waren nach der intensiv betreuten Schwangerschaft nahezu familiär. Da ist von einer "Garagenparty" nach der problemlosen und erfolgreichen Geburt bei den Göbels die Rede. Einschulung, Jugendweihe - immer war auch jemand vom Kinderwunschzentrum dabei.
Fotoalben, die man sich gegenseitig schickte, machen auch an diesem Abend die Runde und geben Anlass zu manch launigem Kommentar. Immerhin gibt es von diesem Baby auch schon jede Menge (Ultraschall-)-Bilder vor der Geburt. Margit im Vierzellstadium - sie hat sich zweifellos am meisten verändert, wird gewitzelt.
Die junge Frau ist heute Architekturstudentin in Weimar, von ihrer "Herkunft" haben ihr die Eltern irgendwann erzählt, "als es uns richtig erschien", sagt Mutter Roswitha. Margit selbst nahm das damals ganz gelassen hin. Und sieht es bis heute nicht anders.