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Zukunftszentrum in Halle Vom Solidarnosc-Zentrum lernen

Das Europäische Solidarnosc-Zentrum in Danzig gilt als Vorbild für das Zukunftszentrum in Halle. Was hat es zu bieten? Ein Besuch in einem gigantischen Gewächshaus aus Stahl.

Von Christian Eger 08.12.2023, 16:54
Solidarnosc-Platz in Danzig: vorn die Kreuze für die Opfer des Aufstandes von 1970, dahinter das Solidarnosc-Zentrum, rechts das alte Tor der Werft
Solidarnosc-Platz in Danzig: vorn die Kreuze für die Opfer des Aufstandes von 1970, dahinter das Solidarnosc-Zentrum, rechts das alte Tor der Werft (Foto: picture alliance/ dpa)

Danzig/MZ. - Here starts Europe. Hier beginnt Europa. So steht es auf dem Plakat auf der Glastür, die hineinführt ins Europäische Solidarnosc-Zentrum (ESC) im polnischen Gdansk, dem vormaligen Danzig. Hier beginnt Europa – nicht im geografischen, sondern im politischen Sinn. Hier, in der Danziger Werft, begann 1980 mit der Gründung der freien Gewerkschaft Solidarnosc die Zertrümmerung des kommunistischen Ostblocks und die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft.

Seit die Stadt Halle im Februar dieses Jahres den Zuschlag für das bis 2028 zu errichtende Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation erhielt, richten sich die Blicke auf das 2014 eröffnete ESC: ein Komplex aus Bildungs- und Forschungszentrum, Solidarnosc-Museum und Zentralarchiv. Was dort gelungen ist, soll auch in Halle gelingen. Aber was und womit? Was ist da zu sehen, was zu begreifen?

Danzig im Vorwinter, Schnee und Regen wischen über den Platz Solidarnosci, auf dem sich schemenhaft das ESC abzeichnet. Keine Schönheit, aber ein eindrückliches Gehäuse. Ein Koloss, zusammengefügt aus rostfarbenen Stahlplatten, die den Schiffbau zitieren.

Links stehen die turmhohen, 1980 von Werftarbeitern erbauten Stahlkreuze, die an die Opfer des Aufstandes von 1970 erinnern. Rechts öffnet sich das alte Tor zur Werft, die der Streikführer und spätere polnische Staatspräsident Lech Walesa (80) weltberühmt machte. Dahinter hockt der Bau.

Ein Zloty raus, vier Zlotys rein

Ein Gang führt hinein: rechts Ticketschalter und Garderobe, links die Ausgabe der mehrsprachigen Audio-Guides. Der Gang läuft auf eine Halle zu, die Agora, der öffentliche Platz des Gehäuses. Links führt eine Rolltreppe hinauf in die Dauerausstellung „Wege zur Freiheit“, rechts empfangen ein Café und Shop. Es gibt einen Konferenz- sowie Film- und Theatersaal.

Haushoch ist die Halle, deren innere Glasfront den Blick auf 100.000 Bücher in mehreren Etagen freigibt. Das Haus – fünf Stockwerke, mehr als 25.000 Quadratmeter Fläche – ist auch ein Gewächshaus. Bäume und Beete füllen Teile der Halle. Steh- und Imbisstische stehen bereit, zwischen denen sich Menschen bewegen. Unübersehbar: Hier ist etwas los.

Eine Million Menschen jährlich sollen das von der Solidarnosc, der Stadt und Regierung betriebene ESC besuchen. Mehr als 2.000 Gäste an einem Tag? Ja, sagt Basil Kerski, der Direktor des Hauses. „Wir haben von morgens bis abends offen, Montag bis Sonntag“, sagt der Publizist und Kulturmanager, ein 1969 in Danzig geborener Iraker. „Was wichtig ist für Halle: Wir haben kein Museum geschaffen, sondern einen öffentlichen Ort für die Zivilgesellschaft.“

Klare Bildsprache: Blick in die Dauerausstellung „Wege zur Freiheit“
Klare Bildsprache: Blick in die Dauerausstellung „Wege zur Freiheit“
(Foto: dpa)

Das ESC scheint im Vorteil: ein historischer Ort und viel Küstentourismus im Sommer. Aber Zeithistorisches hat auch Halle zu bieten: mit 60.000 Menschen eine der größten Demonstrationen am 17. Juni 1953, an den auch die ESC-Ausstellung erinnert. Und nicht allein Leipzig, auch Halle hatte seinen 9. Oktober 1989, den – anders als in Leipzig – nicht gewaltfreien Protestauftakt zur Revolution.

Groß ist der Anteil an jungen Gästen im ESC. Werden gezielt Schulklassen zugeführt? Nein, sagt Kerski. „Die Schulklassen kommen nicht, weil sie geschickt werden, sondern weil sie wollen. Das Haus zu besuchen, dazu gehört Mut.“

Die seit 2015 allein regierende Pis-Partei ist keine Freundin des ESC. Danzig ist der Ort der Opposition, das kleine gallische Dorf im Pis-Imperium. Hier hat Lech Walesa sein Büro, wovon das ESC profitiert. Hier werden die Menschenrechte über die Nation gestellt. Im Januar 2019 wurde der zuletzt parteilose rechtsliberale Danziger Oberbürgermeister Paweł Adamowicz von einem Anhänger der Pis-Partei ermordet und sein Sarg im Wintergarten des Hauses aufgestellt. Tausende kamen. Die Besucherzahl schoss 2019 auf 1,2 Millionen Menschen.

Sachlich und didaktisch zielt die Hauptschau voll auf die Zwölf. Die Diktatur-Kritik ist eineindeutig. Geschichte der Solidarnosc, Alltag und Propaganda, die Wege des Widerstands. Ein Vor-1989er Wohnzimmer, eine Gefängniszelle, ein Verhörraum, das Papa-Mobil, mit dem Papst Johannes Paul II. Polen besuchte. Sinnfällige Inszenierungen, klare Ansagen, nicht ohne Pathos, das sich steigert, um am Ende in einem weißen Raum Frieden, Freiheit, Demokratie zu feiern. Es werden gezeigt: Gandhi. Mutter Teresa. Lech Walesa. Pathos gehört zu Polen wie der Katholizismus. Wer es ruhiger mag, kann die Ausstellung zur Werft im Erdgeschoss besuchen. Mehr Zulauf hat die große Schau.

Hat das ESC Effekte für Danzig? Ein ausgegebener Zloty, das hätte eine Untersuchung von 2016 gezeigt, erzeuge vier Zloty Einnahmen für die Stadt, sagt Basil Kerski.

Walesa für die Handtasche

Welche Fehler sind zu vermeiden, wenn es um die Gestaltung des Hauses in Halle geht?

„Fehler? Um Gottes willen!“, wehrt Basil Kerski ab. Der Begriff Fehler gehört nicht zu seinem Wortschatz. „Erstens, nicht herummeckern“, sagt er und lobt Halle, wo das nicht passiere. „Zweitens, die Debatte nicht ängstlich oder pessimistisch führen. Drittens, nicht die ostdeutsche Befindlichkeit in den Vordergrund rücken, dieses Teilen in Ossis und Wessis.“ Es gehe um etwas: Um die „erste gelungene demokratische Revolution, die aber mit den Nachbarn gemacht wurde in Ost und West“. Schließlich: „Wir müssen bedenken: Wir haben nicht viele nichtkommerzielle Orte, an denen wir uns öffentlich begegnen. Insofern lohnt jede Investition.“

So sieht es auch Cornelia Pieper (FDP), die aus Halle stammende Generalkonsulin in Danzig. Wir treffen sie im Artushof bei einem Round-Table-Gespräch zur Lage in der Ukraine. „Man sollte sich nicht zu sehr einengen“, sagt sie über die Halle-Debatte. „Nicht regional, nicht national. Das Zukunftszentrum sollte nicht zuerst mit der deutschen Einheit, sondern mit der europäischen Transformation identifiziert werden.“

„Das Wichtigste ist Psychologie“, sagt Basil Kerski. „Es ist Hoffnung, nicht Beton.“

Und Humor. Im ESC-Shop gibt es Walesa-Puppen, eine Art Supermario in drei Typen. Walesa im Blaumann, Walesa im Anzug und als Demokratie-Aktivist mit bedrucktem Shirt. 85 Zloty das Stück, rund 21 Euro. Die Puppen könnten auch in Halle verkauft werden – Super-Lech neben Mauerresten und Hallorenkugeln.

Es grünt so grün:  Haupthalle des ESC mit Bäumen und Beeten
Es grünt so grün: Haupthalle des ESC mit Bäumen und Beeten
(Foto: Imago)