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Sex & Drugs & Ende der Unschuld Von Hingabe zu Missbrauch: Rammstein und der dunkle Schatten um die Fan-Idol-Beziehung seit den Beatles im Star Club

Seit den Anfängen der Beatles im Star Club gab es immer Fans, die ihren Idolen ganz besonders nahekommen wollten. Das System war bekannt und eingespielt. Seit Rammstein aber hat sich alles geändert.

Von Steffen Könau Aktualisiert: 24.06.2023, 15:28
Bei Rammstein-Konzerten geht es heiß zu - rund um Sänger Till Lindemann schlägt derzeit eine Missbrauchsdiskussion Flammen.
Bei Rammstein-Konzerten geht es heiß zu - rund um Sänger Till Lindemann schlägt derzeit eine Missbrauchsdiskussion Flammen. Foto: Steffen Könau

Halle/MZ - Als Shelby Lynn sich Ende Mai vor ihren Rechner setzte, um ihrem Herzen Luft zu machen, ahnt die junge Frau aus Irland noch nicht, was sie damit auslösen wird. „Ich bin das Mädchen, das beim Rammstein-Konzert angegriffen wurde“, schreibt die 24-Jährige beim Kurznachrichtenportal Twitter.

Wenig später schiebt sie Belege nach, Videos, Kopien von Whatsapp-Nachrichten, Erlebnisberichte aus Vilnius, der Stadt, in die sie eigens geflogen war, um Rammstein zu erleben, die deutsche Band, deren Fan sie seit fast zehn Jahren ist.

Oder nun besser: war. Denn Lynn, vom Aussehen her ein wilder Punk, von Beruf aber Beamtin, war ihrer Lieblingsband diesmal nahe gekommen, viel zu nahe. Erst sei sie eingeladen worden, das Konzert von ganz vorn zu verfolgen, aus dem Bereich direkt vor der Bühne, zu dem nur Fotografen, Techniker und Sicherheitsleute Zugang haben. Dann wird ihr auch noch angeboten, Sänger Till Lindemann allein zu treffen, mitten im Konzert, in einer Pause, wie Shelby Lynn sagt.

Sie sei dann in einen Raum unter der Bühne geführt worden, Lindemann sei hereingekommen, sie habe sofort geahnt, dass es um Sex gehen solle und abgelehnt. Lindemann habe gebrüllt, sie aber nicht angefasst. Allerdings könne sie sich an alle späteren Ereignisse nur in Bruchstücken erinnern. Lynn erwacht im Hotel, übersät mit Prellungen und blauen Flecken. „Ich bin fast hundertprozentig sicher, dass ich Drogen bekommen habe, weil ich mich noch nie so gefühlt habe.“

Ein Erdbeben aus Irland

Zeilen, die ein Erdbeben zur Folge haben. Weitere Frauen melden sich mit ähnlichen Erlebnisberichten. Immer geht es um Sex und manchmal um Drogen, es geht um strukturellen Sexismus, um Missbrauch und den Vorwurf, der in Leipzig geborene Sänger Till Lindemann habe um sich herum ein ganzes System zu dem einzigen Zweck aufgebaut, ihm bei Konzerten junge Frauen zuzuführen.

In Rockkonzerten feiern die Fans ihre Idole - was sich hinter den Bühnen abspielt, blieb jahrzehntelang meist unerzählt.
In Rockkonzerten feiern die Fans ihre Idole - was sich hinter den Bühnen abspielt, blieb jahrzehntelang meist unerzählt.
imago/Reporters

Seitdem ist die Welt des Rockgeschäfts nicht mehr dieselbe. In Litauen wird Lynns Fall unter dem Aktenzeichen M-1-01-32256-23 geführt. Die Staatsanwaltschaft in Berlin ermittelt. Lindemanns Verlag hat den Vertrag gekündigt. Die Plattenfirma die Werbung eingestellt. Rammstein-Fans, das zeigt der ungebrochene Zustrom zu den Konzerten der erfolgreichsten deutschen Rockband der vergangenen Jahre, sehen dagegen keinen Grund, sich abzuwenden.

Wer einer Einladung in den im Rock sagenumwobenen Backstage-Bereich folge, wisse doch, worauf er sich einlasse, heißt es da. „Die Musiker wollen Dir bestimmt nicht ihre Plattensammlung zeigen.“

Im Zuge der bisher ungeklärten Affäre, in der die Band alle Vorwürfe zurückweist, schoben sich eine ganze Reihe von alten Rammstein-Alben sogar wieder in den Charts nach oben.

Die Kritiker dagegen beantworten die Versuche der Band, weitere Beschuldigungen anwaltlich unterbinden zu lassen, erfolgreich mit Geldsammlungen für die betroffenen Frauen, die sich als Opfer von Verhältnissen sehen, die älter sind als das erste „Yeah, Yeah, Yeah“ der Beatles.

Es ist der Metoo-Moment des Rockgeschäfts, 72 Jahre nach „Rocket 88“, dem ersten Rocksong von Ike Turners Kings of Rhythm. „Blow your horn, rocket“, fordert der damals gerade 20-jährige Sänger da, nur auf den ersten Blick gerichtet an sein schwarzes Cabriolet mit V8-Motor.

Chuck Berry schwärmt damals von Mädchen, die erst „sweet little sixteen“ sind, aber auf der Jagd nach Autogrammen enge Kleider, Lippenstift und hochhackige Schuhe tragen.

Die Beatles, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen in den Tagen ihrer legendären Auftritte im Hamburger „Star Club“ machten, erinnern sich später im Song „Ticket to ride“ an die wilde Zeit inmitten zugeneigter Frauen: Das besungene Ticket, hat John Lennon später gestanden, meint den Gesundheitsausweis von Prostituierten, die „Fahrt“ nichts anderes als ein sexuelles Abenteuer.

Rockmusik war nie unschuldig

Rockmusik hatte nie eine Unschuld zu verlieren. Elvis Presley war „The Pelvis“ wegen seines aufreizenden Beckenschwungs.

Wenn Bruce Springsteen das „little girl“ in seinem Song „I’m on fire“ fragte, ob sein Vater wohl zuhause sei, Bryan Adams vom „Summer of 69“ sang und Led Zeppelin-Sänger Robert Plant sein Mädchen in „Whole Lotta Love“ aufforderte, seine Hüfte für ihn zu bewegen, damit er ihr „Hintertür-Mann“ sein könne – selten nur ging es um keusche Besuche, meist stattdessen um das „böse Verlangen“, wie es bei Springsteen heißt.

Die Mädchen und Frauen, die sich um die Tour-Trosse scharen, die die Bühneneingänge belagern und es im besten Fall wirklich bis in die als „Backstage“ bezeichneten Garderoben der Superstars schaffen, werden „Groupies“ genannt: Die ersten dieser überenthusiastischen weiblichen Fans umschwärmen bereits in den 40er Jahren den Swing-Star Frank Sinatra, nach ihren auffälligen langen, weißen Söckchen die „Bobby-Soxers“ gerufen. Mit dem Beginn der Beat-Ära wird das Klischee vom Groupie, das hautnah dran ist an seinen Idolen und ihnen auch körperlich nahekommt, zum Lebensentwurf.

Groupies wie Marianne Faithfull, Anita Pallenberg und die Deutsche Uschi Obermaier sind keine Frauen, die es nur auf eine kurze sexuelle Begegnung mit ihren Idolen abgesehen haben. Sondern „Rock’n’Roll-Queens“, wie sie ein Song von Mott the Hopple nennt, die Begleiter, Freunde und Geliebte für längere Zeit werden.

Nicht immer desselben Musikers: Wie der Name schon sagt, der sich vom englischen „Group“ für Rockgruppe ableitet, demokratisiert die mit dem Siegeszug des Rock anlaufende sexuelle Revolution die Beziehungen: Pallenberg ist erst mit Stones-Gitarrist Brian Jones liiert, dann mit dessen Kollegen Keith Richards.

Marianne Faithfull dagegen landet mit Stones-Sänger Mick Jagger im Bett, danach mit Richards, der ihr bei der Gelegenheit erzählt, dass Jagger sich in sie verliebt habe. Die beiden Stones schreiben ihr dann „As tears go by“, ihren ersten eigenen Hit.

Groupies haben sie alle, die Stars. Elton Johns Hit „Tiny Dancer“ besingt sie als „blue-jean babys“, die „die Worte kennen und die Melodien summen“. Pink-Floyd-Keyboarder Rick Wright versucht sich in „Stay“ am Morgen danach verzweifelt an den Namen des Mädchens im Bett neben sich zu erinnern.

Lana del Rey dagegen schildert in „Groupie Love“ den Schmerz, den angehimmelten Star mit den anderen Fans teilen zu müssen.

„Plaster Caster“ von Kiss schließlich ist eine Hymne auf die Amerikanerin Cynthia Albritton, die sich selbst „Plaster Caster“, zu Deutsch also „Gipsgießerin“, nannte, weil ihre Spezialität darin bestand, Abdrücke von den Genitalien eroberter Superstars wie Jimi Hendrix und Noel Redding anzufertigen.

Der Triumph der skandalösen Mädchen

Cynthia sei „die Michelangelo von Sex, Drugs und Rock’n’Roll“ hat Pamela Des Barre ihre Groupie-Kollegin gelobt. Des Barres wusste, wovon sie sprach.

Sie besorgte sich mit 18 einen Job als Kindermädchen bei Frank Zappa. Mit 28 hatte sie nicht nur Mick Jagger, sondern auch Doors-Sänger Jim Morrison, Zeppelin-Gitarrist Jimi Page, Who-Drummer Keith Moon und den Country-Rebellen Waylon Jennings verführt. Des Barres gründete damals eine eigene Groupie-Group. Die „Skandalösen Mädchen“ spielen mit Hilfe von Zappa sogar ein Album namens „Permanent Damage“ („Dauerschaden“) ein.

1969 mussten sich Rolling Stones-Sänger Mick Jagger und seine Freundin Marianne Faithfull vor einem Londoner Gericht wegen Drogenbesitz verantworten.
1969 mussten sich Rolling Stones-Sänger Mick Jagger und seine Freundin Marianne Faithfull vor einem Londoner Gericht wegen Drogenbesitz verantworten.
dpa

Groupies erscheinen so als Glamourwesen. Über Missbrauch, sexuelle Ausbeutung, Drogen und Gewalt wird kaum gesprochen. Schimmert gelegentlich auf, was hinter der Bühne geschieht, fällt der Vorhang umgehend wieder: Als die Tokio-Hotel-Zwillinge Tom und Bill Kaulitz vor Jahren berichteten, wie ihr Manager ihnen in den frühen Tagen ihrer raketenhaften Karriere ungestörte Schäferstündchen mit weiblichen Fans arrangierte, blieb jede Aufregung aus.

Wie anders hätte es auch funktionieren sollen? Wer damals erlebt hat, welche Euphoriewellen um die gerade 15-Jährigen brandeten, ahnt, dass es den Teenagern unmöglich war, einfach in eine Disko oder ein Café zu gehen, um ein Mädchen kennenzulernen.

Nein, was backstage passierte, blieb meist backstage, in jenem romantisierten Männer-Märchenreich, das in Wirklichkeit muffig riecht, nach altem Bier und kaltem Rauch. Bis Shelby Lynn kam.