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Kindesentführungen Kindesentführungen: Was steckt hinter den Geschichten über den weißen Transporter?

Von Alexander Schierholz 23.12.2016, 16:00

Halle (Saale) - Bald wird er wieder rollen, es ist nur eine Frage der Zeit. In Sachsen-Anhalt war es zuletzt im Frühsommer soweit. Großkorbetha (Burgenlandkreis), Merseburg, Günthersdorf (beide Saalekreis): Aus allen drei Orten kommen Meldungen, wonach Kinder entführt worden sein sollen, in Merseburg sogar zweimal innerhalb weniger Tage. Die Rede ist von einem weißen Kleintransporter, manchmal auch einem silbernen, und südländisch aussehenden Männern. Die Ermittlungen der Polizei sind noch nicht in allen Fällen abgeschlossen, doch für eine Straftat spricht bisher nichts. „Ich kann keinen Fall nennen, wo man tatsächlich versucht hätte, ein Kind zu entführen“, sagt Antje Hoppen, Sprecherin der Polizeidirektion Süd in Halle.

Immer wieder machen Berichte über angebliche Kindesentführungen in einem weißen Transporter die Runde - was ist da dran?

Alles nur Hysterie, Panikmache? Der weiße Transporter jedenfalls ist nicht zu stoppen. Seit Jahren rollt er durch verschiedene Bundesländer und durch die sozialen Netzwerke im Internet, scheinbar unaufhaltsam. Wer „weißer Transporter“ verbunden mit „Kindesentführungen“ oder „Kinderfänger“ bei Google eingibt, findet etliche Berichte quer durch die Republik. 2011, Brandenburg: „Gerüchte im Internet: Angst vor Kinderfängern im weißen Kleinbus“. 2013, Hessen: „Gibt es die ,Kinderfänger’ oder handelt es sich um Falschmeldungen?“. 2014, Nordrhein-Westfalen: „Flamersheim und Kleinbüllesheim: Weißer Transporter im Visier“. 2015, Schleswig-Holstein: „Die Wahrheit hinter den weißen Rumänen-Transportern“.

Aber was ist die Wahrheit, was Dichtung? In fast allen diesen Fällen sagt die Polizei: Da ist nichts dran. Nur in Brandenburg wurde 2011 tatsächlich ein Fall bekannt, in dem ein Unbekannter versucht haben soll, ein achtjähriges Mädchen in einen Transporter zu zerren. Das Kind wurde dabei verletzt, die Polizei hielt seine Darstellung für glaubhaft. Der Fall befeuerte die Ängste vieler Eltern, im Internet machten Warnungen die Runde. Aber schnell auch erfundene Geschichten.

Und in Sachsen-Anhalt? Andreas von Koß, Sprecher des Landeskriminalamtes, sagt: Trotz der Vorfälle vom Sommer gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass im Land Entführer ihr Unwesen trieben, die Kinder in Autos zerren wollten. Derartiges habe es bisher nicht gegeben.

Was ist der weiße Transporter, der gerne auch mal silbern vorfährt oder schwarz? Eine reale Gefahr? Oder eine Folie, auf die wir unsere Ängste projizieren?

„Ängste sind normal und sinnvoll“, sagt Helmut Kury. „Sie schützen uns und lassen uns vorsichtig sein.“ Jeder trage Angst in sich. Kury, 75, ist einer der renommiertesten deutschen Kriminalpsychologen. Seit zehn Jahren ist er emeritiert, aber immer noch gut im Geschäft. Vor kurzem war er auf Tagungen in den USA, nun ist er auf dem Sprung nach Indien. Zwischendurch erwischt man ihn daheim nahe Freiburg im Breisgau am Telefon.

Phänomen weißer Transporter: Wenn Aufmerksamkeit in Hysterie umschlägt

Kury hat sich in seinen Forschungen jahrelang mit einer speziellen Form der Angst beschäftigt - der Furcht vor Verbrechen. Er kennt diese Furcht selbst. Er erzählt von einem Besuch in New York in den 1980er Jahren. Unbedingt will er in den Stadtbezirk Harlem. „Ich hatte ein Bild im Kopf“, sagt er, „Harlem als Hochburg des Verbrechens.“ Entsprechend mulmig fühlt er sich, als er aus der U-Bahn steigt. Am Ausgang sieht er zwei Polizisten, er spricht sie an und darf sie auf einem Rundgang begleiten. „Ohne sie hätte ich mich wahrscheinlich unwohl gefühlt oder sogar Angst vor einem Überfall gehabt.“

Ein Bild im Kopf. Auch die Schüler, die im Frühsommer an einen weißen Transporter in Günthersdorf (Saalekreis) vorübergehen, haben ein Bild im Kopf. Erst kurz vorher sind sie im Unterricht belehrt worden, wie man sich verhalten soll, wenn ein fremdes Auto und fremde Männer auftauchen. Das im Kopf, genügt einem der Schüler offenbar bereits der Anblick des Fahrzeuges: Er informiert seine Mutter, die ruft die Polizei. Später wird sich herausstellen, dass der Transporter einfach nur am Straßenrand geparkt war, ohne dass jemand ein- oder ausstieg.

Der Psychologe Helmut Kury sagt: Das Risiko, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden sei ungleich höher als das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden. Mit der Angst aber verhalte es sich umgekehrt: Die Angst vieler Menschen vor Verbrechen sei größer als ihre Angst vor Unfällen. Studien zeigten, dass die Verunsicherung erst abnehme, wenn Menschen besser über die realen Gefahren von Kriminalität informiert würden.

Woran liegt das? „Fast jeder fährt Auto“, sagt der Forscher, „das ist Alltag für uns. Wir fühlen uns sicher und denken, wir haben die Situation im Griff.“ Anders bei Verbrechen. Da lauert das Unbekannte. Schon bei Einbrüchen. „Da dringt jemand in Ihr Zuhause ein, in Ihren persönlichen Rückzugsraum“, sagt Kury. „Das macht Angst.“

Und wenn, wie seit mehr als einem Jahr, auch im kleinsten Dorf plötzlich fremde Menschen auftauchen, Flüchtlinge? Bei manchen löse das Neugier aus, sagt Kury, bei manchen aber auch Verunsicherung. Befeuert häufig noch durch pauschalisierende Berichte und Gerüchte über „die“ Flüchtlinge. Er hält das nicht für dramatisch. „Seine Nachbarn kennt man seit 20 Jahren, aber wenn Menschen neu im Ort sind, schaut man vielleicht mal etwas genauer hin. Das ist ganz natürlich.“ Aufmerksamkeit sei nichts Schlechtes.

Was aber, wenn Aufmerksamkeit in Hysterie umschlägt? Wie trennen zwischen berechtigter Sorge und Panik?

Gerüchte über angebliche Kindesentführungen im Internet

Wer zum „weißen Transporter“ googelt, stößt nicht nur auf Medienberichte, sondern auch auf zahllose alarmistische Posts über vermeintliche Kindesentführungen: „Bitte redet mit euren Kindern! Und sagt den anderen Eltern Bescheid !!!“, heißt es dann, oder: „Bitte passt um so aufmerksamer auf eure Kinder auf und lasst sie keine Sekunde aus den Augen! Ich hoffe die Schweine werden gefasst!“ (Fehler im Original). Was davon Wahrheit ist, was Dichtung, lässt sich kaum mehr auseinanderhalten. Gepostet wird trotzdem, was das Zeug hält.

Ganz falsch, findet Anja Salomon. Sie kümmert sich bei der Polizeidirektion Süd in Halle um Kriminalprävention. Ihre goldene Regel: „Man sollte nichts weiterverbreiten, was man nicht selbst erlebt hat.“ Eltern posteten im Internet oft Informationen, deren Wahrheitsgehalt sie gar nicht überprüfen könnten, sagt die Kommissarin. Wie denn auch? Im Netz pflanzen sich nicht nur Tatsachen, sondern auch Halbwahrheiten und Gerüchte epidemisch fort. Salomon rät: Eltern sollten immer daran denken, dass ungeprüfte Informationen Kinder auch verunsichern könnten.

Und wenn der weiße Transporter dann wirklich auftaucht? Wenn Kinder davon erzählen oder Eltern selbst eine Beobachtung gemacht haben, die ihnen verdächtig vorkommt? Im Zweifelsfall die Polizei verständigen, rät Sprecherin Antje Hoppen. „Besser informiert man uns einmal zu viel als einmal zu wenig.“ Hoppen und ihre Kollegen gehen häufig solchen Verdachtsfällen nach, wie es im Polizeideutsch heißt, allein von April bis September waren es im Süden des Landes mehr als 20. Längst nicht alle werden öffentlich.

In den meisten Fällen, sagt Hoppen, lasse sich der Verdacht schnell entkräften. Mal hat ein Junge den Opa vom Freund nicht erkannt, der zum Abholen gekommen ist. Mal entpuppt sich der verdächtige Transporter als Handwerker-Auto aus einem fremden Ort. Dennoch sind Eltern und Lehrer alarmiert: Nach den Vorfällen im Saale- und im Burgenlandkreis hat das Landesschulamt die Schulen vorsorglich angewiesen, Kinder zu belehren, wie sich verhalten sollen, wenn sie von Fremden angesprochen werden.

Nichtwissen, schafft Unsicherheit, sagt Helmut Kury, der Kriminalpsychologe. Wenn sich aber Nichtwissen in Wissen verwandele, durch Ermittlungen der Polizei, durch Medienberichte, die einordnen und erklären, dann würden viele Ängste kleiner.

Bis irgendwo in Deutschland irgendjemand wieder einen weißen Transporter sichtet. Sich an die letzten Berichte erinnert, vorsichtshalber die Polizei ruft und alles wieder von vorne losgeht: die Verunsicherung, die Ermittlungen, die Internet-Warnungen.

(mz)